27 Dezember 2009

Orhan Pamuk: "Schnee" ("Kar")


Orhan Pamuk: Schnee

In der kalten Jahreszeit wirkt der Titel dieses international wohl bekanntesten Romanes des türkischen Nobelpreisträgers Orhan Pamuk wie eine passende Lektüre. In weiten Teilen Europas liegt derzeit eine Schneedecke, und auch wenn es in Irland einfach nur kalt, trüb und neblig ist, habe ich mir diesen Roman als Lektüre zwischen den Feiertagen gegönnt.

Orhan Pamuk hat 2006 den Nobelpreis für Literatur bekommen, außerdem den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und so ziemlich alle wichtigen Literaturpreise seines Heimatlandes, der Türkei. Sein Roman "Schnee" sorgte auch deshalb für Aufsehen, da er ihm in der Türkei eine Klage einbrachte - er sei "gegen das Türkentum", denn in dem Roman wird auch das Massaker an den Armeniern angesprochen, ein Thema welches in der Türkei nach wie vor kontrovers, ja Tabu ist (ähnlich wie das Massaker an Algeriern in Setif nach wie vor ein Tabuthema in Frankreich ist, oder die Erwähnung des Nanking-Massakers in Japan so sehr vermieden wird, dass die meisten Japaner keine Ahnung haben, wovon Ausländer sprechen, welche sich über dieses Thema unterhalten wollen).

Doch zurück zu Pamuk und seinem Roman "Schnee".

Worum geht es?
"Schnee", auf Türkisch "Kar", erzählt die Geschichte des fiktiven türkischen Dichters Ka, welcher sich im Winter auf in die ostanatolische Grenzstadt Kars macht.
Wie in vielen Romanen Pamuks ist die Namensgebung hier natürlich nicht zufällig, sondern der Roman ist voll von Symbolen sprachlicher aber auch farbiger, religiöser und politischer Art.

Ka lebt eigentlich in Frankfurt im Exil. Er ist Sohn wohlhabender Istanbuler Kreise, ein "Bourgeois", der schon immer Schwierigkeiten hatte, seine türkischen Landsleute zu verstehen bzw. ihre politischen und religiösen Motivationen nachzuvollziehen. Er lebt das Leben eines Einzelgängers und floh vor Furcht von Folter und Unterdrückung nach Deutschland.
Anlässlich des Todes seiner Mutter kehrte er zurück nach Istanbul, und als ihn eine grosse Tageszeitung bat, einen Artikel über eine seltsame Reihe von Mädchen-Selbstmorden in der weit im Osten liegenden Stadt Kars zu schreiben, hat er zugesagt.
Jedoch hat Ka eine eigene Agenda für diese Reise: er weiss dass seine hübsche Kommilitonin Ipek, zu der er sich schon immer hingezogen fühlte, inzwischen in Kars lebt und sich eben von ihrem Mann getrennt hat. Im Grunde ist er an Politik und Religion nur wenig interessiert und folgt also, ganz Dichter, dem Ruf seines Herzens (und seiner Hormone, was für Dichter jedoch ein und dasselbe ist).

In Kars angelangt, wird Ka von heftigem Schneefall ("Kar"...) überrascht. Der Schnee fällt so heftig, dass die Stadt binnen Kurzem von der Außenwelt abgeschlossen ist - Ka sitz wegen Kar in Kars fest sozusagen.

Die meiste Zeit ist Ka Beobachter, und um ihn herum entfaltet sich im Mikrokosmos Kars eine religiös-politische Seifenoper in Form einer Mini-Revolution. Ka ist kein "Akteur", sondern ein "Visiteur". Er steht in diesem türkischen Mikrokosmos für den Westler, den Aufgeklärten, den Atheisten und den Suchenden (denn im Grunde seines Herzens ist er mitnichten Atheist...).

Pamuk ist offensichtlich ein großer Verehrer Kafkas, und ähnlich wie dessen Held Josef K. in "Der Prozess" ist Ka zunächst scheinbar unschuldiges Opfer, welches in Dinge hineingezogen wird, zu denen er eigentlich keinen Bezug hat. Im Laufe des Romans jedoch lernt der Leser, dass die Bezüge Kas zu den Ereignissen in Kars auf tieferen Ebenen wohl da sind.

Die Stadt Kars wird von Pamuk als kleine, überschaubare Version der Türkei inszeniert. Alle in der Türkei aktuell wichtigen Strömungen (normale Leute, Künstler, Journalisten, Polizei und Spitzel, Militärs, Kopftuchfrauen und natürlich die Islamisten) begegnen einem hier in Form von Individuen. Dieser Ansatz erlaubt es Pamuk, gesellschaftliche Strömungen zu durchbrechen und uns in Form von Einzelschicksalen nahe zu bringen.

Es gibt eben nicht "DEN Islamisten", hinter jeder weltanschaulichen Überzeugung steht ein Individuum, ein Mensch welcher an der Welt leidet und sich auf der Suche nach Antworten oft in Irrwegen verfängt.

Mir scheint ausserdem, dass Kars Liebe, Ipek, symbolisch für die Türkei steht. Er liebt sie heiß und innig, verbringt aber den Großteil seines Lebens fern von ihr. Hinzu kommt, dass sie sich ihm zwar hingibt, sich aber letztlich weigert, ihn nach Deutschland zu begleiten. Im Grunde ist er zwar zu ihr hingezogen und von ihr abhängig (Ipek ist auch ein Symbol seiner Mutter), aber er versteht sie nicht wirklich, sie bleibt ihm gleichzeitig ein ewiges Rätsel.

So gesehen ist Ipek zugleich die personifizierte Mutter, Muttergottheit, das ewig Weibliche und auch die Nation, und Kas ewiges Schwanken zwischen Liebe, Abhängigkeit und Resignation bezüglich ihr ist damit auch gleichzeitig Ursache seiner Leiden und Motor seiner Kreativität.

Wie ist es?
"Schnee" ist kein einfacher Roman für zwischendurch. Wer überhaupt kein Interesse hat an aktuellen Strömungen in der Türkei (oder in anderen islamisch geprägten Ländern), der wird diesen Roman schnell wieder aus der Hand legen.
Natürlich enthält der Roman auch viele andere Ebenen, und gerade auf der symbolischen Ebene gibt es eine Reihe von Leitmotiven, welche ihn auch unabhängig vom konkreten Beispiel "Türkei" interessant machen.

Mir persönlich hat "Schnee" sehr gut gefallen, geht es mir doch wie den meisten Deutschen so, dass ich zwar türkische Freunde und Bekannte habe, im Grunde aber von dem Land, dessen Volk den größten Teil an Einwanderern in Deutschland darstellt, beschämend wenig weiss.

Das Buch ist im Übrigen stellenweise mit erfrischendem, teilweise auch etwas zynischem Humor gespickt.

Der Schnee dient in dem Roman als Symbol in mehrfacher Hinsicht.
Als "Kollektiv"-Schnee ist der Schnee ein Symbol für Gott, für das Universale, das Allumfassende. Der Schnee ist konkret das Schicksal für Ka und für Kars, zumindest während der 3 Tage, in denen die Stadt komplett von der Außenwelt abgeschlossen ist.
An einer Schlüsselstelle des Romans jedoch zeigt sich, dass der Schnee als einzelne Schneeflocke auch für den Menschen, für seine Individualität, seine Träume, seine Geschichte und letzlich sein Sterben (und aufgehen im Kollektiv) steht.

Andere wichtige Symbole des Romans sind "Der Ort, an dem Allah nicht ist", das grüne Buch, in welches Ka seine spontan ihm eingegebenen Gedichte schreibt und die diversen Farben, welche immer wiederkehren.

Fazit
"Schnee" ist ein lohnender, aber anstrengender Roman. Für mich hat er zur Reflexion angeregt, war und bin ich doch mit meinem Urteil über Islamisten immer sehr harsch. Konfrontiert mit Islamismus neige ich zu allgemeinen, verurteilenden Aussagen und vergesse, dass hinter jedem Fanatiker ein Mensch steckt, den eine Mutter geboren und eine Gesellschaft geprägt hat.

Als Deutscher und Europäer war der Roman für mich hochinteressant da er mir eine relativ aktuelle Aufnahme über die geistige Lage in der Türkei gegeben hat. Sollten Pamuks Schilderungen der Spitzel und der folternden Staatsbeamten, des immer noch brisanten Kurden-Problems und der nicht aufgearbeiteten Geschichte (Armenier!) auch nur zu 30% zutreffend sein, dann ist die Türkei in der Tat noch sehr weit davon entfernt, ein wahrhaft europäisches Land zu sein - ganz unabhängig vom Lebensgefühl gewisser Istanbuler Kreise.

"Schnee" ist somit ein fordernder Roman, der aber aufgrund seiner Sprache dennoch geeignet ist für verschneite Tage, viele Tassen Tee auf dem Sofa und Reflexionen über Gott, das Leben und den ganzen Rest.

16 Dezember 2009

Alice Sebold: "In meinem Himmel" ("The lovely Bones")




In meinem Himmel: Roman


Dieser amerikanische Roman dürfte derzeit vermehrt Aufmerksamkeit geniessen, denn die Verfilmung von Peter Jackson ist inzwischen schon in vielen Kinos gestartet (hier in Irland läuft der Film "The lovely Bones" bereits).

Ich habe dieses Buch diesen Herbst gelesen, als die Tage immer kürzer wurden und die Landschaft immer trister. Es war das ideale Buch für die tägliche Bahnfahrt von und zur Arbeit, aber auch abends und am Wochenende konnte ich das Buch stellenweise nicht aus der Hand legen.

Worum geht es?Die Geschichte ist schnell zusammengefasst. Das Mädchen Susie Salmon ist ein normaler Teenager in einer normalen amerikanischen Kleinstadt der 1970er-Jahre. Sie ist eben in der Phase ihres Lebens angelangt, in welcher die erste kleine Romanze mit einem Schulkameraden sich beginnt zu entfalten, als sie eines kalten Dezemberabends von einem Nachbar in einem nahe gelegenen Maisfeld vergewaltigt und getötet wird.
Von "ihrem Himmel" aus verfolgt sie von nun an das Leben ihrer Familie und Freunde über die kommenden Monate, ja Jahre. Dabei dreht sich zunächst fast alles, was sie mitbekommt, um sie - die Menschen, die mit ihrem Verlust zurecht kommen müssen und deren verschiedene Arten, mit ihrem Verlust fertig zu werden.

Wie ist es?
Alice Sebold erzählt in "In meinem Himmel" sehr einfühlsam und teilweise äußerst spannend und schockierend die Geschichten von Susie's Familienangehörigen und Freunden. Auch die Geschichte und Persönlichkeit ihres Mörders wird dargestellt, und bei dem Blick in die seelische Leere und auf den "Dark Passenger", welcher in diesem Menschen zu wohnen scheint, konnte ich mich des schauderns nicht erwehren.

Es sind aber vor allem die Wege und Irrwege Ihrer Eltern, jüngeren Schwester und des kleinen Bruders, sowie der engsten Schulfreunde, welches dieses Buch so interessant machen. Die subtilen Verbindungen zwischen den Menschen in der Kleinstadt, und das leere Zentrum, welches als das Bindeglied dieses "Netzwerkes" die ermordete Susie ist, machen aus diesem kleinen, aber feinen Roman eine sehr lesenswerte Geschichte über die Unzulänglichkeiten unseres Lebens, die Sinnlosigkeit unserer Bestrebungen und Eitelkeiten im Angesicht des Todes, aber auch über die Schönheit wahrer Menschlichkeit.

Fazit:Lesen! Dieses Buch passt in die kalte Jahreszeit, es ist keine Strand- oder Urlaubslektüre, und kein Buch, dass man so schnell vergessen wird. Ich bin froh, dass ich es las, bevor der Film auf den Markt kam, denn im Laufe des Lesens habe ich eine sehr persönliche Beziehung zu Personen wie Susie's Vater aufgebaut, und die ersten Screenshots vom Film haben mich sehr enttäuscht, ich finde, einige Schauspieler (v.a. Susies Vater) sind so weit von der Buchvorlage entfernt, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass ich den Film so sehr geniessen werde wie ich das Buch genoss.


05 Dezember 2009

Mark Helprin: "Wintermärchen" ("Winter's Tale")

Mark Helprin: "Wintermärchen"

"Wintermärchen" ist eines jener Bücher, die einen auf eine Reise schicken und auch dann nicht mehr loslassen, wenn man den Buchdeckel nach der letzten Seite schon längst wieder zugeklappt hat.
Ich habe das Buch als Teenager in der Stadtbibliothek Böblingen entdeckt, als ich auf der Suche nach "etwas anderem" war (damals bestand meine Lektüre in der Hauptsache aus Wolfgang Hohlbein und Stephen King). Und es war wohl das Versprechen des Titels, dass mich mit diesem Buch etwas "fantasymässiges" erwarten würde, sowie die Jahreszeit - es war Winteranfang damals.

Wintermärchen spielt in New York, aber gleichzeitig auch in einer fabelhaften, wunderbaren und tragischen Welt - einem New York, in dem Wunder geschehen und sich die Gesetze von Zeit und Raum nicht so starr und phantasielos verhalten wie in der Welt unserer alltäglichen Erfahrungen.

Das Buch deckt grob 100 Jahre in New York ab, und die Stadt dient dem Autor als Kulisse, vor der er uns eine ganze Reihe von zunächst nicht miteinander in Beziehung stehender Charaktere vorstellt, Ihnen Zeit gibt, sich zu entfalten und tiefe Eindrücke in uns zu hinterlassen.
Dies ist eine der großen Stärken Mark Helprins: er vermag es, seinen Lesern die unterschiedlichsten Menschen und deren Schicksale, Überzeugungen und Lebenswege näher zu bringen.

Im Laufe des Romans verweben sich die Schicksale der Protagonisten mehr und mehr, es entsteht ein Netz aus Beziehungen und Begegnungen, wie man sie aus den später entstandenen Robert Altman - Filmen kennt.

Technik und Architektur vermischen sich hier mit Magie und Mystik, Journalismus, Business und Karriere mit Liebe und tiefer Romantik. Verbrechen mit Ehrhaftigkeit und über allem glitzern die Sterne in der eisig klirrenden Kälte eines jahrhundertelangen Winters.

Ein magisches Buch, ein Buch wie geschaffen für lange Winternächte am Kamin. Ein Buch, in welchem New York mit Sicherheit verklärt wird, dass aber auch eine Seite in mir anrührte, welche mich die ganze Welt in einem anderen, einem magischeren Licht sehen liess.


29 November 2009

Michael Moorcock: "Elric von Melniboné" ("Elric of Melniboné")




Elric of Melnibone (The Tale of the Eternal Champion)


Als großer Fantasy-Fan hätte ich die "Elric"-Saga eigentlich bereits als 14jähriger lesen sollen (also vor über 15 Jahren). Ich hatte zwar einige Moorcock-Titel gelesen, dessen Hauptwerk "Elric" jedoch immer auf später verschoben.



Nun war es also so weit: ich habe mir einen englischsprachigen Sammelband mit dem Titel "Elric of Melniboné" gekauft, in welchem die erste Hälfte der Elric-Romane in chronologischer Reihenfolge abgedruckt sind.



Im Gegensatz zu "traditioneller" Fantasy à la Tolkien, hat man es bei "Elric" mit einem "Anti-Helden" zu tun. Ambivalent, ja pervertiert, auf jeden Fall leidend stellt sich der Herrscher von Melniboné dar. Depressiv, romantisch, aggressiv und immer hoch tragisch - Elric erfüllt all diese Klischees, aber das hat ja auch einen Grund: denn er war der Erste, Moorcock hat der Fantasy-Literatur diesen Stereotyp quasi "geschenkt". Alle die nachher kamen sind im Grunde nur noch pathetisch.



Pathos ist bei Elric allerdings auch angesagt. Zu Beginn der Reihe ist er noch fest auf dem Thron von Melniboné sitzender Herrscher. Zwar sägen schon Neider an dem Throne, und die kommende Tragödie zeichnet sich bereits ab. Denn Elric ist ein denkbar unambitionierter Monarch. Die Macht, welche er erbte, interessiert ihn nicht so sehr wie z.B. die Philosophie, die Schwermut aber auch die Liebe zu seiner Cousine.



Aber er ist eben auch der erste seines Volkes (eine albinohafte, weißhäutige Rasse, welche kriegerisch und magiebegabt ist und auf allen anderen Kontinenten der Welt gefürchtet und gehasst wird), der sich mit moralischen Zweifeln plagen muss. Er hinterfragt die versteinerten Traditionen seines überalterten Volkes und verachtet ihren Hochmut. Er sucht Befreiung und Liebe, bringt aber Unheil und Tod all denen, die seine Wege kreuzen.


Zum Glück hat Moorcock die Gabe, die Story auch regelmässig zu erhellen, nicht zuletzt durch die Einführung etwas leichtmütigerer Weggefährten.



Der einzige Wermutstropfen, den ich nach der ersten Hälfte der Elric-Romane verspürte, war dass ich die Romane dann teilweise doch etwas zu seicht, zu oberflächlich und zu schnell im Tempo fand. Mit 16 hätte ich mit Elric sicherlich aufregende Wochen und jede Menge Ideen für selbst verfasste Rollenspiel-Abenteuer gehabt. Mit über 30 jedoch ist die Elric-Sage eher ein Ausflug in meine Jugend, befriedigt meine Neugier und erfüllt ansonsten den Zweck, mein Verlangen nach "Nostalgie" zu stillen.

Nichts desto Trotz ist die Elric-Saga nach wie vor ein "must" für alle Fantasy-Fans. Als Fantasy-Fan Elric nicht zu kennen ist wie... nun wie ein Pop-Fan der noch nie etwas von den Beatles gehört hat. Man muss die Beatles nicht mögen, und kann trotzdem einen ausgezeichneten Musikgeschmack haben, aber sie sind Teil des "kollektiven Musik-Bewusstseins" - und genau so ist Elric (neben dem "Herrn der Ringe", der Narnia-Reihe und den "Nebeln von Avalon") einer der Grundsteine moderner Fantasy-Literatur.


James Joyce: "Ein Porträt des Künstlers als junger Mann" ("A Portrait of the Artist as a young man")



Ein Porträt des Künstlers als junger Mann (Bibliothek Suhrkamp)



Joyces "Porträt", mit sein frühester Roman, wird oft als gute und einfache "Einstiegslektüre" zu seinem Gesamtwerk und vor allem zu seinem Hauptwerk "Ulysses" betrachtet.

Nachdem ich am "Ulysses" mehrfach gescheitert bin dachte ich, dass ich mich zunächst einmal besser an diesem Buch versuchen sollte. Also besorgte ich mir die englische Ausgabe (ganz stilvoll gekauft am "Bloomsday" im "Joyce Tower" in Dublin) und verbrachte einige Zeit damit, dieses Buch und damit auch die Kindheit und Jugend des Autors, zu entdecken.

Besonders reizvoll für mich war diese Lektüre auch deshalb, da ich als Arbeitsemigrant in Dublin damit auch ein Bild von der Stadt von vor über 100 Jahren erhielt.

Das "Porträt" ist ein autobiographischer Bericht über Joyces Kindheit und Jugend im Dublin des späten 19. / frühen 20. Jahrhunderts - und es ist ein Meisterwerk!

Ich gestehe dass ich auch so meine Schwierigkeiten mit diesem Buch hatte, und dass ich ohne die fundierten und ausführlichen Fußnoten meiner Originalausgabe schon bald den Faden verloren hätte - zu viele lokale, geschichtliche und religiöse Anspielungen sind in diesem Buch auf engstem Raum untergebracht. Diese geben der Erzählung ihre Dichte und Tiefe, sind aber für den "nicht Eingeweihten" (also nicht irischen, nicht Dubliner, nicht Katholiken) ohne Hilfe nur schwer zu entziffern.

Auf der anderen Seite habe ich durch dieses Buch sehr viel über Dublin und irische Geschichte gelernt - aus der Perspektive des heranwachsenden und erwachsen werdenden James Joyce - welche Privileg!

Joyce hatte seine irischen Landsleute sehr kritisch betrachtet. Er machte es sich selbst nicht einfach und übernahm die damals gängigen Ansichten und Betätigungen, die um ihn herum alle betrieben, um "echte Iren" zu sein (Gälisch lernen, Hurling spielen) bewusst NICHT. Er war ein desillusionierter Ire, der akzeptiert hatte, dass die keltische und keltischsprachige Vergangenheit ein für alle mal Geschichte war. Für die Bemühungen seines Zeitgenossen Yeats, der sich aktiv für die Wiederbelebung der irischen Sprache bemühte, hatte er nur ein müdes Lächeln übrig, und er weigerte sich vehement, dessen okkult-romantische Sicht der Vergangenheit zu übernehmen.

"Irland hat immer nur fremden Herren gedient. Wir sind die Hure Londons und die Hure Roms. Beide Imperien, das Römische und das Britische, haben uns über Jahrhunderte geknechtet und geformt. Über die Jahrhunderte hinweg nach dem ursprünglich irischen, dem Altkeltischen zu suchen, und dabei eine Revolution mit Hurling-Sticks zu organisieren - das ist an sich schon ein Witz, ein tragisch-vergeblicher bestenfalls, aber wahrscheinlich einfach ein Dummer" - so könnte man Joyces' Meinung zu der kulturell-politischen Situation seiner Zeit wohl zusammenfassen.

Wer dieses Buch liest, der versteht warum es für Joyce zum Exil keine Alternative gab. Erst in der Ferne konnte er auf natürliche Art und Weise "Ire" sein. Einem Freund sagte er bereits sehr jung: "Weil der Weg nach Tara [Sitz der keltischen Hochkönige in der irischen Antike] über Holyhead führt" (Holyhead in Wales war der klassische Übergangshafen für Iren, welche ihrem Land in Richtung England und Europa den Rücken kehrten). Damit wollte Joyce ausdrücken, dass er nur in der Ferne einen Zugang zum "echten" Irland finden konnte.

"Warum sollte ich für meine Vorfahren leiden, die einer anderen Rasse das Land überliessen, ihre Sprache übernahmen..." etc... sind die verbitterten Äusserungen des jungen Joyce.

Joyces' Meinung zur katholischen Kirche sind noch drastischer.

In den "religiösen" Kapiteln - Joyce war in seiner Kindheit und frühen Jugend ein glühender Katholik und fast schon auf dem Weg, ein jesuitischer Pater zu werden - zeigt Joyce, wie viel die Weltliteratur den Jesuiten zu danken hat: hätten diese ihn nicht erst zum Fanatiker, dann zum fanatisch kranken und schuldbeladenen Sünder gemacht - wer weiss ob sein literarisches Genie mit solcher Inbrunst nach Aussen gedrängt hätte.

Man erhält einen direkten und intimen Einblick in die Art und Weise, wie die jesuitische Erziehung ganze Generationen von Menschen von Klein auf "geistig verkrüppelt" hat mit ihren erzkatholischen Anschuungen, welche den Körper per se als "sündig" darstellen. Man sieht hier eine Religion der Angstherrschaft und des Terrors über die eigene "Herde".

James Joyce - es tut mir wirklich Leid, dass Du all das durchmachen musstest. Aber ich bin auch froh darüber, denn ohne diese Erfahrungen hättest Du uns nie solch Größe gezeigt.
P.S.: Einen sehr guten (englischen) Kurz-Essay über das Buch findet der interessierte Leser hier: http://english.agonia.net/index.php/article/63510/Stephen%E2%80%99s_Escape_in_Portrait_of_the_Artist_as_a_Young_Man


Leenders / Bay / Leenders: "Jenseits von Uedem"




Jenseits von Uedem


Für jemanden, der noch nie in Uedem oder in der niederrhenischen Gegend um Uedem war, wird dieses Buch einfach ein Krimi unter vielen sein.


Aber nachdem ich die Gegend um Uedem, Kleve, Xanten, Goch etc... besuchte, war die Lektüre dieses Buches sehr spannend und brachte einige schöne Erinnerungen zurück.


Die Story an sich ist simpel - es beginnt mit dem mysteriösen Tod eines Privatdetektives während der "Herrensitzung" des Klever Karneval.


Die Hauptpersonen sind eine Gruppe von Polizeibeamten der "Kripo Kleve", und der kurze Roman beschreibt ihre Untersuchungen auf der Jagd nach dem Mörder.


Das Buch hat einen großen Fehler: es ist zu kurz. Nein, nicht aus dem Grund, aus welchem "Der Herr der Ringe" für alle Fans zu kurz ist, sondern am Ende war ich wirklich erstaunt wie schnell und auch etwas lieblos die Geschichte aufgelöst und beendet wird. Zu Beginn entspannt sich die Geschichte in mehreren Schichten und man wird hineingezogen in den niederrheinischen Mikrokosmos. Ich werfe es dem Autoren-Trio auch heute noch vor, mich erst in die Geschichte "eingefangen" zu haben, nur um mich am Schluss in einigen wenigen Seiten wieder aus ihr hinaus zu werfen.


Nach dem Lesen hatte ich das Gefühl, dass nicht alle "losen Enden" verknüpft wurden (z.B. die Love-Story zwischen zwei Ermittlern), was nie wirklich schön ist.


Mein Resüme: zu Beginn stark, dann lässt so ab der Mitte des Buches die Spannung nach und der Abgang ist leider schwächer als erwartet.


Und so kann ich das Buch wirklich nur Leuten empfehlen, die eine persönliche Beziehung zum Niederrhein haben.



George MacDonald: "Lilith"




Lilith


George MacDonald ist einer der "Ur-Paten" oder "Gründungsväter" der modernen Fantasy-Literatur. Schriftsteller wie Tolkien, C.S. Lewis oder Auden wurden stark von MacDonalds Werken beeinflusst und bewunderten seinen Stil.


Aber George MacDonald war nicht nur ein Gründungsvater der Fantasy, er war auch ein religiöser "Vater" und ein sehr spiritueller Mensch. Seine ersten Schriften stammen aus dem Jahr 1855, und das hier rezensierte Buch, "Lilith", gehört zu seinen wichtigsten und letzten Werken - es wurde 1895 veröffentlicht. George MacDonald starb 1905.


"Lilith"... christlicher Überlieferung zur Folge war sie die "erste Hure", aber der Mythos von Lilith geht weiter zurück als das Christentum, zurück bis an die Ursprünge jüdischer und sogar sumerischer Kosmologie und Glaubens.


Als ich anfing, dieses Buch zu lesen, wusste ich von all dem nichts. Ich wusste nur, dass dieses Buch ein "Klassiker der Fantasy" sein sollte, und dass es für jeden wahren Fan von Fantasy-Literatur ein "Muss" war. Ich war sofort erstaunt über den Sprachstil, in welchem das Buch verfasst wurde (auch deutsche Übersetzung im Klett-Cotta Verlag, welche ich lass, transportiert den Stil des 19. Jahrhunderts) und über die tiefen spirituellen, ja theosophischen Spuren der Geschichte.


Zusammengefasst ist das Buch die Geschichte von Mr. Vane (Single, Weiß, Englisch), der den Landsitz seiner verschollenen Eltern übernimmt. Nach einem Leben voller Studien der Philosophie an britischen Elite-Universitäten kehrt Mr. Vane zurück auf den Landsitz seiner Vorfahren.


Weitläufige Gärten umgeben ein großes Landhaus, und die umfangreiche und allem Anschein nach jahrhundertealte Bibliothek bildet das Herz des Landsitzes.


Da er alleine lebt (die übliche Dienerschaft ist natürlich vertreten, spielt aber kaum eine Rolle), verbringt er fast alle seine Tage in seiner Bibliothek und liest seinen Weg durch Werke der Philosophy, als er eines Tages einen geisterartigen Besucher in der Bibliothek bemerkt. Dieser scheint der frühere Bibliothekar zu sein, welcher den Ort nach wie vor regelmässig besucht.


Mr. Vane folgt dem Phantom und entdeckt auf dem Dachboden ein Portal in eine andere Welt - dies ist nun der Beginn einer Reise, die man als "Reise in die Astralebene" sehen könnte, genauso gut aber auch als eine Reise ins eigene Innere von Mr. Vane. Er betritt also kein "anderes Narnia oder Mittelerde", sondern das Land seiner eigenen Seele.


Bald schon begegnet Mr. Vane vom Bibliothekar, der sich als "Mr. Raven" zu erkennen gibt. Dessen "alter ego" ist eine große, sprechende Krähe. Durch die etwas rätselhaften Unterhaltungen mit Mr. Raven wird Mr. Vane zusehends verunsichert, bis er merkt, dass er im Grunde gar nicht weiss, wer er wirklich ist. Die Begegnung mit seinem "Seelenführer" Mr. Raven stellt für Mr. Vane damit den Beginn einer inneren Wandlung dar, und das ganze Buch ist somit eher der Roman einer Initiation als eine klassische Fantasy-Geschichte.


Obwohl sich einige Teile des Buches wie viele andere Fantasy-Geschichten lesen lasesn (mit einigen Abenteuern und einem seltsamen "Volk" von Kindern, welche er vom Einfluss einer bösen Prinzessin zu befreien sucht), enthält das Buch viele eher spirituell-philosophische Passagen, welche dem durchschnittlichen Fantasy-Fan des 21. Jahrhunderts eher rätselhaft bis uninteressant erscheinen könnten.


Ich liebe "Lilith" genau aus diesem Grund - das Buch war für mich beinahe schon so etwas wie eine Offenbarung und ich frage mich nun, warum spätere Fantasy-Autoren sich mehr und mehr von direkten spirituellen oder philosophischen Spekulationen entfernt haben.



Matthias Matussek: "Wir Deutschen"




Wir Deutschen: Warum die anderen uns gern haben können


Zunächst einmal war ich doch etwas skeptisch bei diesem Buch. Warum sollte ich es überhaupt lesen? Ich mag Patriotismen nicht und verachte Menschen, welche es nötig haben „ihr Land zu lieben“, um dadurch irgendwelche psychischen Mankos auszugleichen oder sich wichtig zu fühlen. „Vaterlandsliebe“ war für mich immer Zeichen eines tief sitzenden Minderwertigkeitsgefühl – schon mit 14 Jahren zitierte ich hier gerne altklug Schopenhauer, der „Nationalstolz als einen Ersatzstolz für den persönlichen Stolz eines Menschen“ bezeichnete.


Warum sollte ich dieses Buch also lesen? Nun, zunächst einmal weil es mir von einem guten Freund zu Weihnachten geschenkt worden war, noch dazu einem Freund, dessen literarisches Urteil ich zumeist teile und dessen Urteilen ich oft blind vertrauen konnte. Hatte er es mir mit einem Augenzwinkern geschenkt, oder hatte
er sich seit der Fussball-WM nun auch zu einem Patrioten gewandetl?


Wie dem auch sei, da lag dieses Buch und so beschloss ich, es zwischen „Elric“ und „Ulysses“ quasi als „leichte Lektüre“ einzuschieben.


Um was geht es nun in diesem Buch?


Matussek hat das Buch für die WM 2006 geschrieben – nun, nicht FÜR die WM, aber wohl doch auch anlässlich dieses Events. „Patriotismus“ war und ist für Deutsche ein schwieriges Thema. Während sich die uns umzingelnden Freunde teilweise doch sehr in ihrem Patriotismus baden, oft gar in blankem Nationalismus, werden auch heute noch Leute, die sich in Deutschland offen als „Patrioten“ bezeichnen, als alt- oder neu-Nazis gehandelt, oder es sind einfach verwirrte und historisch „dumme“ Gestalten.


In diesem Buch nun versucht Matussek, den Blick auf die deutsche Geschichte zu erweitern, und er arbeitet klar gegen die Auffassung, Deutschland als junge Nation zu verstehen, welche aus dem grössten Verbrechen der Menscheitsgeschichte entstanden ist. Vielmehr ist es Matussek an der deutschen Kulturnation gelegen, welche ja
bereits lange vor der nationalen Einigung Bestand hatte.


Während die Briten ganz klar unter einer psychotischen Besessenheit mit einem fiesen „Nazi-Fetischismus-Virus“ leiden (und selbst sehr starke Patrioten sind, die sich zwar gerne an die Arthus-Legende erinnern aber über die britischen Blutbäder der Geschichte gerne auch mal hinwegsehen), fällt es den Deutschen nach wie vor
schwer, über jene dunklen Zeiten zwischen 1932 und 1945 hinaus zu sehen.
Wir werden nicht nur von Aussen mit Hitler und seiner „Familie“ an blutrünstigen Generälen assoziiert, wir assoziieren uns auch selbst noch viel zu oft mit dem Diktatoren-Gesindel und den irren Massen, welche ihnen folgten.


Matussek will diesen Teil der Geschichte nicht leugnen oder auslöschen, aber den Blick seiner Leserschaft einmal auf andere -ältere- Teile der deutschen Geschichte lenken. Und er wehrt sich vehement und glaubhaft gegen das unter vielen Historikern nach wie vor verbreitete Urteil über „die Deutschen“, dass die deutsche Geschichte zwangsläufig auf Hitler und den Holocaust hinlaufen musste (am Besten schon seit Luther!).


Statt dessen spricht Matussek lieber über Heinrich Heine, und ich muss gestehen, sein Heine-Essay gehört zur leidenschaftlichsten und schönsten Liebeserklärung an den jüdisch-deutschen oder deutsch-jüdischen, Deutschen jüdischen Glaubens oder wie auch immer, die ich je lesen durfte. Wie sehr konnte ich mich mit Heine hier identifizieren: der nachts wehmütig in seinem Pariser Exil an Deutschland denkt, der (sprachlich eh!) ganz Deutschland im Herzen trägt und daran leidet, dann aber bei einer Reise durch die deutschen Lande auch bitter über den „deutschen Michel“ schimpft. Genau so ergeht es mir ja auch bei jedem meiner Heimatbesuche! Die aus der Ferne als „gelobtes Land“ vermisste Heimat wird bei Nähe betrachtet auch zu einem Tal der
Mißstände, und die Currywurst schmeckt auch nur in der Erinnerung so lecker…


Was das Buch für mich ausserdem zu einer vergnüglichen Lektüre machte, sind die in regelmässigen Abständen erfolgenden Attacken gegen die Engländer. Genußvoll wird dieses arrogante Volk vorgeführt, nicht ohne Schalk im Nacken natürlich! Schön, dass der Autor hier aus eigener Erfahrung spricht anstatt mit Klischees und Vorurteilen zu kommen.


Das das Buch ausserdem voller Interviews mit hochinteressanten Zeitgenossen (Harald Schmidt) und Zeitzeugen&Machern (Klaus von Dohnanyi) sowie deutschen „Klischee“-Promis (Heidi Klum) ist, macht es nur noch reizvoller.


Die an alle gestellten Fragen „Sagen Sie mal einen unverkrampften Satz über Deutschland!“, die heitere Art des Autors und sein hervorragender Schreibstil führen dazu, dass ich das Buch allen ans Herz legen möchte. Man findet hier ein schönes Bild, Momentaufnahmen und Reiseberichte aus einer ehemals gespaltenen Nation, 15 Jahre nach der Wiedervereinigung.


Auch wenn meine Lebensphilosophie sich stark an Jiddu Krishnamurti orientiert und ich daher strikt gegen eine Identifikation mit „Nation“, „Religion“ etc… bin, (und hierin auch nicht mit dem Autor übereinstimme), so muss ich doch zugeben, dass mir das Buch grosses Vergnügen bereitet hat, und das liegt v.a. daran:
bei allem Spott über die Engländer, bei allem Zynismus, ist Matussek vor allem eins: ein Humanist. Ihm liegt stets der Mensch am Herzen, und diese Menschlichkeit durchzieht wie ein feiner Geruch das gesamte Buch. Beim Lesen des Buches denke ich über seinen Autor: das ist ein Mensch, den ich gerne einmal kennen lernen würde – was kann einem ein Buch denn schon besseres bieten?



T.H. White: "Das Buch Merlin"




Das Buch Merlin: Das unveröffentlichte Fünfte Buch von 'Der König von Camelot'


Sehr lustige Lektüre. Fantasy von einem Zeitgenossen Tolkiens, jedoch in völlig anderem Stil.


Brite wie Tolkien, Kriegs-Trauma wie Tolkien (obwohl nie Soldat gewesen sondern nach Irland „desertiert“) bietet T.H. White eine überraschend philosophisch-politische Version von König Arturs letzter Nacht vor der Schicksalsschlacht mit seinem Sohn Mordred.


Fünfter Band der Reihe „The Once and Future King“ (aber ohne Vorwissen sehr gut zu lesen da inhaltlich nur bedingt verbunden), hatten Whites Verleger ihre Probleme mit der Veröffentlichung des Buches, weshalb es erst fast 10 Jahre nach dessen Tod in den 70er-Jahren in den USA veröffentlicht und ein sofortiger Bestseller wurde.


Merlin ist in diesem Band bereits sehr alt, und er besucht König Artus nach vielen vielen Jahren wieder. Er findet ihn in dessen Zelt auf dem Schlachtfeld an, niedergeschlagen, gebrochen, alt. Es bedarf einigen Geschicks, um den alten König zu motivieren, sich noch einmal mit Merlin auf eine Reise zu begeben.


In einem Dachsbau, umgeben von vielen Tieren (wohl alte Bekannte aus Arturs Kindheit aus dem ersten Band der Reihe) lernt Artur die Welt der Ameisen und Fluggänse kennen und gewinnt Abstand von seinen eigenen Problemen. Obwohl an der Welt, den Menschen, seinen Rittern und den Frauen verzweifelt, gelingt es Artur, eine philosophische Distanziertheit zu den Dingen zu gewinnen und die Welt trotz ihrer Schwächen wieder lieben zu lernen.


Sehr interessant ist auch das Nachwort über die Gestalt Merlins in den verschiedenen Varianten und Versionen.


Hier wurde mir klar, wie viele Parallelen das Leben Merlins mit dem Gründervater der japanischen Religion des Shugendô, En-no-Gyôja, hat (welcher Thema meiner inzwischen veröffentlichten Magisterarbeit ist).


Beide sind an der Welt und ihren Intrigen verzweifelt, freiwillig oder unfreiwillig in „Verbannung“ gegangen in die Welt der „Tiere“, in die Wälder.


Und erst indem sie die Wildheit der Natur und den harten Überlebenskampf dort hautnah erlebten, kehrten sie verwandelt in die Welt der Menschen zurück – ohne ihr je wieder völlig anzugehören. Von ihrem Leben in den (Berg)wäldern brachten sie ein instinktives Wissen und eine „Aura“ mit, die aus ihnen in den Augen der Normalsterblichen „Magier“ machte.


Merlin und En-no-Gyôja – beide waren sie Grenzgänger, verwilderte und gerade dadurch weise gewordene Menschen. Auch wenn Letzterer heute als Religionsgründer verehrt wird und Merlin das Reich der Legende nie verlies, so waren sie beide in ihren Intentionen und Taten nie bewusste Gründer von Religion, hatten nie eine Schule gegründet und nie Anhänger um sich geschart, maximal „Schüler“ angenommen.


Aber zurück zu Whites Roman:
„Das Buch Merlin“ kann man sehr schnell lesen, für den Schlußteil des Buches, einen halbwissenschaftlichen Aufsatz, braucht es etwas mehr Konzentration.


Ein schönes Beispiel für „anspruchsvolle“ Fantasy und v.a. dafür, dass Fantasy keinesfalls naive Billigliteratur für das geistige Prekariat ist, sondern verschiedene wichtige Funktionen erfüllt.


„Eskapismus“ ist hierbei ein gern zitiertes Wort, jedoch hat schon Tolkien in einer Vorlesung darauf hingewiesen, dass die „Flucht“, welche Fantasy dem Leser anbietet nicht „die Flucht des Deserteurs, sondern das Entkommen des Gefangenen“ darstellt.


Gefangen in einer Welt, welche an Imaginationsarmut leidet, in welcher die Menschen den Kontakt zur Natur verloren haben und – intellektuell stark – die imaginative, kreative, bildliche Seite ihres Seins verkümmert ist.


Märchen, Legenden und Sagen sind ja klassischerweise der Stoff, in welchem sich symbolhaft die psychologischen Unterströmungen des menschlichen Bewusstseins Ausdruck verschaffen. In einer Welt jedoch, in welcher die Menschen den Kontakt zu den Überlieferungen ihrer eigenen Traditionen verloren haben, oder in welcher die „Errungenschaften“ des Jetzt den Menschen vor gänzlich neue Herausforderungen stellen, tritt die Fantasy-Literatur an, den Wunsch des Einzelnen nach dem Fantastischen zu befriedigen. Die Sehnsucht nach „astralen“ Dingen und Wesenheiten, die Sehnsucht nach dem Glauben daran, dass unser Leben mehr ist als halb geordnete Zahlen und Statistiken, oberflächliche Befriedigungen bei innerlicher Leere – ist es da ein Wunder, dass die Fantasy im 20. Jahrhundert solch einen Boom erlebt hat?


T.H. White war seiner Zeit voraus, und es verwundert nicht, dass sein Werk in den 1970er-Jahren zu solch einem Erfolg wurde.


Einige Zitate, die mir besonders gefallen haben:


„Der Mensch, der stolzte Mensch steht im zwanzigsten Jahrhundert da und glaubt selbstgefällig, die Rasse habe sich im Laufe von elenden tausend Jahren entwickelt, während er gerade dabei ist, seine Brüder in Stücke zu zerfetzen. Wann werden sie lernen, dass es eine Million Jahre dauert, bis ein Vogel eine einzige Schwungfeder verändert hat? Da steht er, der blindwütige Tolpatsch, und tut, als sei alles anders geworden, weil er einen Verbrennungsmotor gebastelt hat. Da steht er, seit Darwin, weil er gehört hat, dass es so etwsa wie eine Evolution gibt. Ungeachtet der Tatsache, dass die Evolution in Millionen-Jahren-Zyklen geschieht, glaubt er, er habe sich seit dem Mittelalter entwickelt. Vielleicht hat sich der Verbrennungsmotor entwickelt, aber nicht er. Schaut ihn an, wie er sich über seine eigenen Ahnen lustig macht, ganz zu schweigen von anderen Säugetierarten… [...]. Und Gott nach seinem Bild zu schaffen! Glaubt mir, die sogenannten Primitiven, die Tiere als Götter verehrten, waren nicht so einfältig, wie die Leute uns glauben machen wollen. Zumindest waren sie demütig. Warum sollte Gott nicht als Regenwurm auf die Erde gekommen sein? Es gibt sehr viel mehr Würmer als Menschen, und sie tun sehr viel mehr Gutes. [...] Wenn die Natur sich je die Mühe machen sollte, den Menschen zu betrachten, diese kleine Scheußlichkeit, dann würde sie vor Schreck den Verstand verlieren.“


„Das Argument ist lediglich eine Entfaltung geistiger Gewalt, da wird mit Beweisgründen gefochten, um einen Sieg zu erreichen und nicht die Wahrheit. Meinungen sind die Sackgassen fauler oder dummer Menschen, die nicht denken können. Wenn je ein echter Politiker ein Thema wirklich leidenschaftslos durchdenkt, ist sogar Homo stultus gezwungen, seine Ergebnisse letzten Endes anzuerkennen. Die Meinung ist der Wahrheit nie gewachsen. Gegenwärtig gibt sich Homo impoliticusallerdings damit zufrieden, entweder mit Meinungen zu argumentieren oder mit seinen Fäusten zu kämpfen, statt auf die Wahrheit in seinem Kopf zu warten. Es wird noch eine Million Jahre dauern, bevor man die Masse der Menschen als politische Tiere bezeichnen kann.“


„Nach unseren Feststellungen setzen sich zur Zeit je hundert Vertreter der menschlichen Rasse politisch aus einem Weisen, neun Schurken und neunzig Toren zusammen. Das sind Feststellungen eines optimistischen Beobachters. Die neun Schurken versammeln sich unter dem Banner des Schurkischsten und werden „Politiker“; der Weise macht nicht mit, weil er weiss, dass er eine hoffnungslose Minderheit ist, und widmet sich der Poesie, der Mathematik oder der Philosophie; die neunzig Toren trotten derweil hinter den Fahnen der neun Schurken je nach Neigung in die Labyrinthe des Betrugs, der Bosheit und der Kriege. Sancho Panza hat festgestellt, es sei angenehm, auch nur eine Schafherde zu kommandieren, und deshalb erheben die Politiker ihre Banner. Darüber hinaus ist es für die Schafe gleichgültig, was auf dem Banner steht. Ist es Demokratie, dann werden die Schurken Abgeordnete; ist es Faschismus, werden sie Parteiführer; ist es Kommunismus, werden sie Kommissare. Nichts ist anders außer den Namen. Die Toren sind immer noch Toren, die Schurken immer noch Führer, das Ergebnis ist immer noch Ausbeutung.


Was den Weisen angeht, so ist sein Los unter jeder Ideologie so ziemlich das gleiche. In der Demokratie wird man ihn ermuntern, in einer Dachkammer zu verhungern, im Faschismus steckt man ihn in ein Konzentrationslager, im Kommunismus wird er liquidiert. Das ist eine optimistische, aber insgesamt wissenschaftliche Feststellung über die Gepflogenheiten des Homo impoliticus.“


„Selbst wenn die Kriege als Religionskriege aufgeputzt werden wie die Kreuzzüge gegen Saladin oder die Albigenser oder Montezuma, bleibt die Basis immer die gleiche. Niemand hätte sich die Mühe gemacht, die Segnungen des Christentums auf Montezuma auszudehnen, wenn er nicht goldene Sandalen gehabt hätte, und kein Mensch hätte das Gold an sich als hinlängliche Versuchung betrachtet, wenn sie nicht eine Dosis Adrenalin gebraucht hätten.“


„Das alte walisische Wort für „Geschichte“, „cyfarwyddyd“ bedeutet „Führung“, „Richtung“, „Unterweisung“, „Wissen“, „Geschicklichkeit“, „Rezept“. Es ist abgeleitet von „araydd“, was wiederumg heißt „Zeichen“, „Symbol“, „Manifestation“, „Omen“, „Wunder“ und kommt von der Wurzel des Wortes „sehen“. Der Geschichtenerzähler (cyfarwydd) war ursprünglich ein Seher und ein Lehrer, der die Seelen seiner Zuhörer durch die Welt des Geheimnisvollen führte.“ (aus: Alwyn Rees and Brinley Rees, Celtic Heritage, Ancient Tradition in Ireland and Wales)



Susan Cooper: "Wintersonnenwende" ("The Dark is Rising")



Wintersonnenwende


Als 12jähriger hatte mich die Fantasy schon völlig im Griff und als gutter Kunder meiner städtischen Bücherei fiel mir irgendwann einmal das Büchlein “Der graue König” von Susan Cooper in die Hände.


Erst zu Hause merkte ich, dass es der vierte Buch einer fünfbändigen Reihe mit dem Titel „Wintersonnenwende“ ist (Originaltitel: „The Dark is Rising“).



Ich hatte mir damals alle Bände gekauft und gelesen, war aber wohl noch zu jung, um viele Konzepte der Reihe wirklich zu verstehen. Obwohl ich jetzt im Rückblick sagen muss, dass mich die Reihe wohl mehr geprägt hat, als mir klar war, denn die Ritter-Freimaurer-Magie-Symbolik der Reihe sollte ja später in meinem Leben eine fundamentale Rolle spielen.



Hier in Irland lief dann eines abends im TV ein Kinowerbespot zu einem Film namens „The Dark is Rising“ und obwohl ich die Reihe irgendwo in einem Kämmerlein meines Gehirns fast schon vergessen hatte, klingelte sofort eine Glocke.


Und, Hamster-Mentalität und Relocation-Company seihs gedankt: ich habe alle Bände von Susan Cooper mit nach Irland genommen.



Erstaunlich, wie viel Literatur man in der DART verarbeiten kann, und da ich jedesmal einen Sitzplatz bekomme, habe ich die fünf Bände in knapp einem Monat nochmal gelesen.



Welch Wonne! An viele Bilder und einige Szenen konnte ich mich zwar noch erinnern, aber erst jetzt konnte ich diese „Kinderbücher“ so richtig geniessen.



Ganz Engländerin hat Susan Cooper die Bände auch dort angesetzt, sie spielen in Cornwall, den englischen Midlands und in Wales, und obwohl sie ständig die keltischen Wurzeln betont und auch Merlin und Artur eine Rolle spielen, wird „Irland“ nicht mal erwähnt, was in meinen Augen die einzige richtige Schwäche der Bücher ist und mal wieder zeigt, was für ein traumatisches Verhältnis die beiden Ländern haben.



Abgesehen davon eine sehr anspruchsvolle Lektüre, ich denke, normale Jugendliche oder der Durchschnitts-Fantasyfan werden sich eher langweilen. Die initiatische Symbolik ist allerorten vertreten, Frau Cooper hat sicherlich tief gegraben.



Umso enttäuschender scheint die jetzige Verfilmung zu werden. Wenn der Film so wird, wie der Trailer es verspricht, haben wir es hier mit einer typisch amerikanisierten Version zu tun.



Aus dem Uralten Will vom englischen Land wird ein US-Highschool-Junge, der von den Mitschülern gehänselt und von den Mädels ignoriert wird. Bis er erfährt, wer er wirklich ist. Viele Effekte, kaum noch Tiefe – das ist meine Hauptbefürchtung. Ein weiterer Film, der dem Genre der Fantasy den Ruf der Oberflächlichkeit eintragen wird.




Jiddu Krishnamurti: Einbruch in die Freiheit




Einbruch in die Freiheit




Diese Lektüre war keine leichte Kost.

Ich bin gerade dabei, Krishnamurti wiederzuentdecken. Mit 17, 18 Jahren hatte ich ihn zum ersten Mal – in Auszügen – gelesen. Und während meines Religionswissenschaftsstudiums war er mir im Zusammenhang mit Theosophie und Anthroposophie wieder begegnet.

Biographie Krishnamurtis:

Kurz zusammengefasst war Krishnamurti ein Opfer des pädophilen Theosophen und Mitbegründers der „modernen“ (oder eher: modernden) Esoterik, Charles Webster Leadbeater.

Leadbeater war ein gescheiterter britischer Pfarrer im 19. Jahrhundert, ein glühender britischer Nationalist und entwickelte sich um die Mitte seines Lebens zum fanatischen Esoteriker. Er wurde Mitglied der „Theosophischen Gesellschaft“ und reiste in die Kolonien, nach Indien.

Zunächst in Sri Lanka übte er sich in besonderen Formen der Meditation, aller Wahrscheinlichkeit nach einer bestimmten Form von bewusst herbeigeführter „Hellsichtigkeit“, welche v.a. mit der Unterdrückung des sexuellen Triebes zu tun hat. Nach seiner Sicht war es jedoch die „Sublimierung der unreinen Triebkräfte“ im Menschen, also eine Form „spiritueller Alchimie“.

Wie dem auch sei, von nun an hielt der alte Leadbeater leider nicht mehr die Klappe, sondern schrieb auf Teufel komm raus (hahaha) äußerst schwülstige Wälzer über die „Innere Seite“ der Dinge. Er behauptete unablässig, seine hellsichtigen Augen könnten die Aura und Energiefelder der Dinge wahrnehmen, und er verfasste pedantische (und stinklanweilige!) Abhandlungen über „die innere Seite von XXX“ (erstetze „X“ durch „Moleküle“ bzw. „Atome“ bzw. „chemischen Elemente“ und viele andere Dinge).

Seine Bücher über die Chakras und die Aura sind nach wie vor Grundausstattung aller esoterischen Bibliotheken.

Ende des 19. Jahrhunderts hatte er einen Blick auf einen kleinen Inderjungen geworfen, den er am Strand spielen sah und der angeblich die „reinste und weißeste Aura“ hatte, die Leadbeater je gesehen hatte.

Und da die theosophische Gesellschaft dieser Zeit in ständier Erwartung des neuen Jesus und neuen Buddhas Maitreya lebte, erklärte er den armen Jungen kurzerhand zum zukünftigen Weltenretter und Erlöser. Er kaufte ihn seinem Vater ab (einem verarmten Brahmen mit sechs anderen Knaben…jaaa, Krishnamurti war zu allem Unglück nämlich auch noch der siebte Sohn eines Brahmanen…) und brachte ihn von nun an in den „Genuss“ einer echt britischen Erziehung. Bei der damaligen rassendiskriminierenden Haltung der Briten eine kleine Sensation.

Von Klein auf wurde Krishnamurti von den theosophen konditioniert und auf seine spätere Rolle hin ausgebildet: laut dem theosophischen Weltverständnis sollte er nämlich als „Gefäß“ für den universalen Buddha- bzw. Christusgeist sein (bei Leuten wie den Theosophen ist sowas nämlich ziemlich dasselbe…) und sein ganzes jugendliches Leben hindurch musste er quasi als „Ausbildung“ dorthin begreifen.

Nach Jahren in London, wo er quasi „den letzten Schliff“ bekommen sollte (schließlich musste der Welt, sprich: dem Westen, ein „Messias“ präsentiert werden, der mit Messer und Gabel essen, Anzüge tragen und die gängigsten Starndartänze tanzen konnte…) ging er nach Kalifornien, wo die Theosophen Besitzungen in Ojai, Kalifornien hatten.

Dort sollte er sich in abschließenden Meditationen auf den Empfang des „Christusgeistes“ oder wie auch immer vorbereiten. Tatsächlich war dies eine Zeit der Transformation. Fast alleine machte der schon erwachsene Krishnamurti eine tiefe Veränderung durch. In seinen Biographien wird dies eindrucksvoll geschildert. Es scheint eine Zeit auch physischer Schmerzen gewesen zu sein, eine Zeit ständiger Visionen und der „Präsenz“ seltsamer Kräfte, wie seine Begleiter schilderten.

Nach Monaten des Rückzugs kam Krishnamurti verändert zurück. Freudig erregt erwartete die theosophische Gesellschaft nun, dass er ihre Erwartungen erfüllen und neue, universale Lehren verkünden, ja am Besten eine neue Religion gründen würde, welche die aktuellen Religionen ablösen würde.

Doch er tat das genaue Gegenteil. Er lehrte, ohja, aber er lehrte die Sinnlosigkeit des Lehrens. Die Absurdität der Religion. Den Irrsinn, einen „Weg zur Wahrheit“ zu suchen. Die Wahrheit, so sagte er oft, sei ein pfadloses Land. Ohne Führer, ohne Dogmen, ohne Lehre könne man sie nur in sich selbst finden – durch einen radikalen geistigen Wandel, der das Bewusstsein für alle Zeit ins „hier und jetzt“ reissen würde.

Die Theosophen waren geschockt! Da hatten sie einen Messias erwartet, und nun kam da dieser Bilderstürmer bei raus!

Dabei…. ist es nicht die Aufgabe jedes WAHREN Messias, mit dem „Alten“ zu brechen, die Menschen aus ihrer Ignoranz zu befreien und auf neue, bislang unbegangene Wege zu führen? Quasi eine „Evolution des Geistes“ herbeizuführen?

So gesehen waren der Kinderschänder Leadbeater und seine Horde sogar erfolgreich gewesen.

Krishnamurti erklärten sie alsbald zum leibhaftig gewordenen „Satan“. Dieser jedoch wurde steinalt – und hat bis ins hohe Alter nicht aufgehört, auf Reisen um die ganze Welt Reden zu halten.

Er hat keine Religion und keine Schule gegründet, er hat auch keine Bücher geschrieben. Aber er hat die Begegnung mit den Menschen gesucht, er hat „Workshops“ veranstaltet, auf denen er sich jedes Mal aufs Neue mit den Zuhörern auf eine „gemeinsame Reise“ machte.

Und er hat der Veröffentlichung seiner Reden nicht widersprochen, jedoch stets davor gewarnt, sie zur allein seelig machenden Wahrheit zu erklären. Ganz Buddha hat er stets betont, dass jeder für sich selbst prüfen müsse.

Inhalt und Auszüge von „Einbruch in die Freiheit“:

Bei diesem Buch handelt es sich um ein kleines Bändchen, erschienen im Ullstein Verlag.

Der Text ist eine Anzahl seiner letzten Reden in Englisch, die er vor vielen Zuhörern weltweit hielt, bevor er 1986 in Kalifornien verstarb.

Die Themen reichen weit, von Selbsterkenntnis, Achtsamkeit und Glückseligkeit geht es bis hin zu Liebe, Tod, Abhängigkeit und Freiheit, Schönheit, Denken und Schweigen um schliesslich mit Texten über Meditation und religiöse Revolution zu enden.

S.10
Seit Jahrhunderten sind wir durch unsere Lehrer, durch unsere Autoritäten, durch unsere Bücher und unsere Heiligen gegängelt worden. Wir erwarten, dass sie uns alles offenbaren, was hinter den Hügeln, den Bergen und der Erde liegt. Und wir sind mit ihrer Darstellung zufrieden, das bedeutet, dass wir von Worten leben und unser Leben hohl und leer ist. Wir sind Menschen aus zweiter Hand. Wir haben von dem gezehrt, was man uns gesagt hat, und liessen uns entweder durch unsere Neigungen und Absichten leiten oder durch das, was uns durch die Umstände und die Umwelt aufgezwungen wurde. Wir sind das Resultat aller möglichen Einflüsse. In uns ist nichts Neues, nichts, das wir selbst entdeckt haben, nichts Ursprüngliches, Urtümliches, Leuchtendes.

Während der ganzen theologischen Vergangenheit ist uns von religiösen Lehrern versichert worden, dass wir, wenn wir bestimmte Riten verrichten, bestimmte Gebete oder Mantras wiederholen, uns gewissen Normen anpassen, unsere Wünsche unterdrücken, unsere Gedanken kontrollieren, unsere Leidenschaften sublimieren, unsere Triebe eindämmen und uns sexueller Ausschweifungen enthalten, dass wir – wenn Geist und Körper ausreichend gefoltert sind – dann etwas jenseits dieses bedeutungslosen Lebens finden werden. Und das haben Millionen sogenannter religiöser Menschen Jahrhunderte hindurch getan, entweder in der Abgeschiedenheit, indem sie in die Wüste oder in die Berge oder in eine Höhle gingen oder mit der Bettelschale von Dorf zu Dorf wanderten oder sich in einem Kloster als Gruppe zusammenfanden und ihren Geist zwangen, sich einem festgelegten Vorbild anzupassen. Aber ein gequälter Mensch mit einem zerbrochenen Geist, ein Mensch, der diesem ganzen Tumult zu entrinnen trachtet, der der äusseren Welt entsagt hat und durch Disziplin und Anpassung abgestumpft wurde, solch ein Mensch, wie lange er auch suchen mag, wird nur finden, was seinem irregeleiteten Geist entspricht.

S.14-15
Alle äusseren Veränderungen, die durch Kriege, Revolutionen, Reformationen, Gesetze und Ideologien veranlasst wurden, haben es nicht vermocht, die Natur des Menschen und damit die Gesellschaft grundlegend zu verwandeln. Als menschliche Wesen, die in dieser monströs hässlichen Welt leben, müssen wir uns fragen, ob diese Gesellschaft, die auf Wettbewerb, Brutalität und Furcht gegründet ist, zu einem Ende kommen kann – nicht in der begrifflichen Vorstellung, nicht als eine Hoffnung, sondern in Wirklichkeit, so dass der Geist frisch, neu und unschuldig ist und eine gänzlich andere Welt hervorbringen kann. Ich glaube, das kann nur geschehen, wenn jeder von uns die wesentlichste Tatsache anerkennt, dass wir als Individuen, als menschliche Wesen, in welchem Teil der Welt wir auch zufällig leben oder welcher Kultur wir auch zufällig angehören mögen, voll und ganz für den Gesamtzustand der Welt verantwortlich sind.
(…)
Man hat es uns gesagt. Die sogenannten spirituellen Führer, von denen man annimmt, dass sie diese Dinge besser verstehen als wir, haben es uns gesagt, indem sie versuchten, uns in eine neue Schablone hineinzubiegen und hineinzupressen, und das hat uns nicht sehr weit gebracht. Weltkluge und gelehrte Männer haben es uns gesagt, und das hat uns auch nicht weitergeführt. Uns wurde gesagt, dass alle Wege zur Wahrheit führen: der eine geht auf seinem Pfad als Hindu, ein anderer folgt seinem Pfad als Christ und wieder ein anderer als Moslem, und sie alle begegnen sich an derselben Tür, und das ist, wenn Sie es richtig betrachten, offensichtlich völlig unsinnig.
Zur Wahrheit führt kein Pfad, und darin liegt ihre Schönheit; die Wahrheit ist etwas Lebendiges. Eine tote Sache hat einen Pfad, der zu ihr führt, weil alles Tote statisch ist. Wenn Sie aber erkennen, dass die Wahrheit etwas Lebendiges ist, das in Bewegung ist, das keine bleibende Stätte hat, das in keinem Tempel, keiner Moschee oder Kirche zu finden ist, wohin Sie keine Religion, kein Lehrer, kein Philosoph führen kann – dann werden Sie auch erkennen, dass dieses Lebendige das ist, was Sie in Wirklichkeit selbst sind – Ihr Ärger, Ihre Rohheit, Ihre Heftigkeit, Ihre Verzweiflung, die Trübsal und das Leid, darin Sie leben. Im Verstehen all dieser Dinge liegt die Wahrheit; doch Sie können nur verstehen, wenn Sie wissen, wie Sie auf diese Dinge, die zu Ihrem Leben gehören, zu schauen haben. Und Sie können nicht von einer Ideologie aus schauen, nicht durch einen Schleier von Worten, nicht mit Hoffnungen und Ängsten.
Sie sehen also ein, dass Sie von niemandem abhängig sein dürfen. Es gibt keinen Führer, keinen Lehrer, keine Autorität. Es gibt nur Sie – Ihre Beziehung zu anderen und zur Welt – , nichts sonst ist da. Wenn Sie das erkennen, mögen Sie in tiefe Verzweiflung geraten, aus der Zynismus und Bitterkeit erwachsen. Doch wenn Sie der Tatsache ins Auge sehen, dass Sie und niemand sonst für die Welt und für sich selbst verantwortlich ist, für alles, was Sie denken, was Sie fühlen, wie Sie handeln, dann verschwindet alle Selbstbemitleidung. Normalerweise gedeihen wir dadurch, dass wir andere tadeln, was eine Form der Selbstbemitleidung ist.

S.52
Sie haben nun eine Reihe von Darlegungen gelesen, aber haben Sie wirklich verstanden? Ihre Voreingenommenheit, Ihre Lebensart, die Struktur der Gesellschaft, in der Sie leben, verhindern Sie daran, eine Tatsache anzuschauen und unmittelbar und gänzlich davon frei zu sein. Sie sagen: „Ich will darüber nachdenken; ich will überlegen, ob es möglich ist, von der Gewalt frei zu sein oder nicht. Ich will versuchen frei zu sein.“ Dieses „Ich will versuchen“ ist das Schrecklichste, was Sie sagen können. Es gibt kein Versuchen, Sie können nicht Ihr Bestes tun wollen. Entweder Sie tun es, oder Sie tun es nicht! Sie operieren noch mit der Zeit während das Haus schon brennt. Das Haus brennt als Folge der Gewalt in der ganzen Welt und in Ihnen, und Sie sagen, „Lassen Sie mich darüber nachdenken, welche Ideologie die beste ist, das Feuer zu löschen.“ Wenn das Haus in Flammen steht, argumentieren Sie dann über die Haarfarbe des Menschen, der das Wasser bringt?

S.67 ff.
Wir haben das Leben vom Sterben getrennt, und das Intervall zwischen beiden ist Furcht; dieses Intervall, diese Zeit wird durch die Furcht geschaffen. Das Leben ist für uns eine tägliche Folter, ist Unbill, Leid und Verwirrung, und gelegentlich öffnet sich ein Fenster über verzauberten Meeren. Das nennen wir Leben, und wir fürchten uns davor zu sterben, das heisst, diese Misere zu beenden. Wir würden uns viel lieber weiter an das Bekannte klammern, als dem Unbekannten ins Auge zu sehen – an das Bekannte, das unser Haus ist, unser Hausrat, unsere Familie, unser Charakter, unsere Arbeit, unser Wissen, unser guter Ruf, unsere Einsamkeit, unsere Götter – diese Belanglosigkeiten, die sich unaufhörlich im eigenen Kreise drehen, in dem festgefahrenen Modell eines verbitterten Daseins.
Wir glauben, dass Leben immer in der Gegenwart ist und dass das Sterben uns in ferner Zeit erwartet. Aber wir haben niemals gefragt, ob dieser tägliche Lebenskampf überhaupt Leben ist. Wir möchten die Wahrheit über Reinkarnation erfahren, wir wünschen Beweise für das Überleben der Seele, wir hören auf die Aussagen der Hellseher und auf die Forschungsergebnisse der Parapsychologie; aber wir fragen niemals – niemals – wie man leben sollte, wie man täglich voller Freude, verzaubert, in Schönheit leben kann. Wir haben das Leben hingenommen wie es ist, mit seiner ganzen Qual und Verzweiflung; wir haben uns daran gewöhnt und denken an den Tod als an etwas, das sorgfältig zu vermeiden ist. Aber der Tod ist ungewöhnlich wie auch das Leben, wenn wir wissen, wie wir leben sollen. Sie können nicht leben, ohne zu sterben. Sie können nicht leben, wenn Sie nicht in jeder Minute innerlich sterben. Das ist kein intellektuelles Paradoxon. Um vollkommen, in ganzer Fülle zu leben, jeden Tag in seiner neuen Schönheit zu erleben, müssen wir uns von allem Gestrigen lösen, sonst leben wir gewohnheitsmässig, und ein Mensch, der zum Automaten geworden ist, kann niemals wissen, was Liebe ist oder was Freiheit ist.

Die meisten von uns fürchten sich vor dem Sterben, weil wir nicht wissen, was es heisst, zu leben. Wir wissen nicht, wie wir leben sollen, daher wissen wir nicht, wie wir sterben sollen. Solange wir uns vor dem Leben fürchten, werden wir uns auch vor dem Tode fürchten. Der Mensch, der sich nicht vor dem Leben fürchtet, fürchtet sich nicht davor, völlig ungesichert zu sein, denn er erkennt, dass es innerlich, psychologisch keine Sicherheit gibt. Wenn keine innere Sicherheit vorhanden ist, beginnt eine endlose Bewegung, und dann sind Leben und Tod eins. Der Mensch, der ohne Konflikt lebt, dessen Leben voller Schönheit und Liebe ist, fürchtet sich nicht vor dem Tode, denn zu lieben heisst zu sterben.

S.69 ff

Liebe
Das Verlangen, in den persönlichen Beziehungen sicher zu sein, erzeugt unvermeidlich Leid und Furcht. Dieses Suchen nach Sicherheit fordert die Unsicherheit heraus. Haben Sie in irgendeiner Ihrer Beziehungen jemals Sicherheit gefunden? Haben Sie das? Wenn wir lieben und geliebt werden, wünschen sich die meisten von uns Sicherheit in dieser Liebe. Aber ist das Liebe, wenn jeder seine eigene Sicherheit, seinen eigenen Weg sucht? Wir werden nicht geliebt, weil wir nicht zu lieben wissen.
Was ist Liebe? Das Wort ist so belastet und verfälscht, dass ich es ungern gebrauche. Jedermann spricht von Liebe – jedes Magazin, jede Zeitung und jeder Missionar spricht unaufhörlich von Liebe. Ich liebe mein Heimatland, ich liebe meinen König, ich liebe irgendwelche Bücher, ich liebe diesen Berg, ich liebe das Vergnügen, ich liebe meine Frau, ich liebe Gott. Ist Liebe eine Idee? Wenn sie es ist, dann kann sie kultiviert, gehegt und gepflegt, herumgestossen und verunstaltet werden, ganz nach Ihrem Belieben. Wenn Sie sagen, Sie lieben Gott, was bedeutet das? Es bedeutet, dass Sie die Projektion Ihrer eigenen Vorstellungen lieben, eine Projektion Ihrer selbst, die in konventionelle Form gekleidet dem entspricht, was Sie für edel und heilig halten. Darum ist es absoluter Unsinn zu sagen, „Ich liebe Gott“. Wenn Sie Gott anbeten, beten Sie sich selbst an – und das ist keine Liebe.
(…)
Der Liebe zu begegnen, ohne sie zu suchen, ist der einzige Weg, sie zu finden; man muss ihr unbeabsichtigt begegnen und nicht durch Anstrengung oder Erfahrung. Sie werden entdecken, dass eine solche Liebe zeitlos ist. Solche Liebe ist sowohl persönlich als auch unpersönlich, Sie gehört dem einen wie den vielen. Sie ist wie eine duftende Blume; sie können ihren Duft wahrnehmen oder an ihr vorübergehen. Diese Blume ist für jeden da und besonders für den einen, der sich die Zeit nimmt, ihren Duft innig einzuatmen und sie mit Entzücken anzuschauen. Ob man ihr im Garten ganz nah ist oder weit entfernt, für die Blume ist es das gleiche, weil sie voll des Duftes ist und ihn für jeden verströmt.
Liebe ist immer neu, frisch, lebendig. Sie hat kein Gestern und kein Morgen. Sie ist jenseits der gedanklichen Unruhe. Nur der unschuldige Mensch weiss, was Liebe ist, und der unschuldige Mensch kann in einer Welt leben, die ohne Unschuld ist. Dieses Ungewöhnliche, das der Mensch ewig gesucht hat – durch Opfer, durch Anbetung, durch Beziehungen, durch Sexualität, durch jede Art von Lust und Leid – wird er nur finden, wenn es dem Denken gelingt, sich selbst zu verstehen und auf natürlichem Wege zu einem Ende zu kommen. Dann hat die Liebe keinen Gegenspieler, dann ist die Liebe ohne Konflikt.

S.100 ff
Meditation
Dieses ganze Problem zu erforschen ist Meditation. Man ist mit diesem Wort sowohl im Osten wie im Westen in einer höchst unglücklichen Weise umgegangen. Es gibt verschiedene Meditationsschulen, verschiedene Methoden und Systeme. Es gibt Systeme, die sagen, „Beobachte die Bewegung Deiner großen Zehe, beobachte sie, beobachte sie, beobachte sie.“ Es gibt andere Systeme, die empfehlen in einer ganz bestimmten Haltung zu sitzen, regelmässig zu atmen oder Bewusstheit zu üben. Das alles ist äusserst mechanisch. Eine andere Methode gibt Ihnen ein bestimmtes Wort mit dem Hinweis, dass Sie eine ungewöhnliche transzendentale Erfahrung werden, wenn Sie es ständig wiederholen. Das ist reiner Unsinn. Es ist eine Art von Selbsthypnose. Wenn Sie das Wort Amen oder Om oder Coca-Cola unaufhörlich wiederholen, werden Sie gewiss eine bestimmte Erfahrung haben, weil Ihr Geist durch die Wiederholung ruhig wird. Es ist ein wohlbekanntes Phänomen, das seit Jahrtausenden in Indien praktiziert worden ist – Mantra-Yoga wird es genannt. Durch Wiederholung können Sie bewirken, dass der Geist freundlich und sanft wird, aber er bleibt ein kleinlicher, minderwertiger, unbedeutender Geist. Sie mögen ebensogut einen Zweig, den Sie im Garten aufgelesen haben, auf den Kaminsims legen und ihm jeden Tag eine Blume opfern. Nach einem Monat werden Sie ihn anbeten, und wenn Sie es versäumen, eine Blume davor niederzulegen, wird es zu einer Sünde werden.
Meditation heisst nicht, einem System zu folgen; sie besteht nicht in ständiger Wiederholung und Nachahmung. Meditation ist keine Konzentration. Es ist eine der Lieblingsmethoden einiger Meditationslehrer, darauf zu bestehen, dass ihre Schüler zunächst Konzentration erlernen – das bedeutet, den Geist auf einen Gedanken zu fixieren und alle anderen Gedanken zu vertreiben. Das ist höchst stumpfsinnig und hässlich; jeder Schuljunge kann das, weil er dazu gezwungen wird. Es bedeutet, dass Sie sich ständig im Kampf befinden zwischen der Beharrlichkeit einerseits, mit der Sie sich konzentrieren müssen, und Ihrem Geist andererseits, der zu allen möglichen Dingen abirrt. Worauf es allein ankommt, ist, dass Sie vor jeglicher Regung Ihres Geistes achtsam sein sollten, wo immer er auch herumwandern mag. Wenn sich Ihr Geist verliert, bedeutet es, dass Sie an etwas anderem interessiert sind.
Meditation verlangt einen erstaunlich wachen Geist. Meditation ist das Verstehen des Lebens in seiner Ganzheit; jede Art der Zersplitterung hat in diesem Zustand aufgehört. Meditation ist keine Gedankenkontrolle, denn wenn das Denken kontrolliert wird, erzeugt es im Menschen Konflikt. Aber wenn Sie die Struktur und den Ursprung des Denkens verstehen, worüber wir bereits gesprochen haben, dann wird sich das Denken nicht einmischen. Dieses Verstehen der Denkstruktur ist an sich Disziplin, und das ist Meditation.