27 Dezember 2009

Orhan Pamuk: "Schnee" ("Kar")


Orhan Pamuk: Schnee

In der kalten Jahreszeit wirkt der Titel dieses international wohl bekanntesten Romanes des türkischen Nobelpreisträgers Orhan Pamuk wie eine passende Lektüre. In weiten Teilen Europas liegt derzeit eine Schneedecke, und auch wenn es in Irland einfach nur kalt, trüb und neblig ist, habe ich mir diesen Roman als Lektüre zwischen den Feiertagen gegönnt.

Orhan Pamuk hat 2006 den Nobelpreis für Literatur bekommen, außerdem den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und so ziemlich alle wichtigen Literaturpreise seines Heimatlandes, der Türkei. Sein Roman "Schnee" sorgte auch deshalb für Aufsehen, da er ihm in der Türkei eine Klage einbrachte - er sei "gegen das Türkentum", denn in dem Roman wird auch das Massaker an den Armeniern angesprochen, ein Thema welches in der Türkei nach wie vor kontrovers, ja Tabu ist (ähnlich wie das Massaker an Algeriern in Setif nach wie vor ein Tabuthema in Frankreich ist, oder die Erwähnung des Nanking-Massakers in Japan so sehr vermieden wird, dass die meisten Japaner keine Ahnung haben, wovon Ausländer sprechen, welche sich über dieses Thema unterhalten wollen).

Doch zurück zu Pamuk und seinem Roman "Schnee".

Worum geht es?
"Schnee", auf Türkisch "Kar", erzählt die Geschichte des fiktiven türkischen Dichters Ka, welcher sich im Winter auf in die ostanatolische Grenzstadt Kars macht.
Wie in vielen Romanen Pamuks ist die Namensgebung hier natürlich nicht zufällig, sondern der Roman ist voll von Symbolen sprachlicher aber auch farbiger, religiöser und politischer Art.

Ka lebt eigentlich in Frankfurt im Exil. Er ist Sohn wohlhabender Istanbuler Kreise, ein "Bourgeois", der schon immer Schwierigkeiten hatte, seine türkischen Landsleute zu verstehen bzw. ihre politischen und religiösen Motivationen nachzuvollziehen. Er lebt das Leben eines Einzelgängers und floh vor Furcht von Folter und Unterdrückung nach Deutschland.
Anlässlich des Todes seiner Mutter kehrte er zurück nach Istanbul, und als ihn eine grosse Tageszeitung bat, einen Artikel über eine seltsame Reihe von Mädchen-Selbstmorden in der weit im Osten liegenden Stadt Kars zu schreiben, hat er zugesagt.
Jedoch hat Ka eine eigene Agenda für diese Reise: er weiss dass seine hübsche Kommilitonin Ipek, zu der er sich schon immer hingezogen fühlte, inzwischen in Kars lebt und sich eben von ihrem Mann getrennt hat. Im Grunde ist er an Politik und Religion nur wenig interessiert und folgt also, ganz Dichter, dem Ruf seines Herzens (und seiner Hormone, was für Dichter jedoch ein und dasselbe ist).

In Kars angelangt, wird Ka von heftigem Schneefall ("Kar"...) überrascht. Der Schnee fällt so heftig, dass die Stadt binnen Kurzem von der Außenwelt abgeschlossen ist - Ka sitz wegen Kar in Kars fest sozusagen.

Die meiste Zeit ist Ka Beobachter, und um ihn herum entfaltet sich im Mikrokosmos Kars eine religiös-politische Seifenoper in Form einer Mini-Revolution. Ka ist kein "Akteur", sondern ein "Visiteur". Er steht in diesem türkischen Mikrokosmos für den Westler, den Aufgeklärten, den Atheisten und den Suchenden (denn im Grunde seines Herzens ist er mitnichten Atheist...).

Pamuk ist offensichtlich ein großer Verehrer Kafkas, und ähnlich wie dessen Held Josef K. in "Der Prozess" ist Ka zunächst scheinbar unschuldiges Opfer, welches in Dinge hineingezogen wird, zu denen er eigentlich keinen Bezug hat. Im Laufe des Romans jedoch lernt der Leser, dass die Bezüge Kas zu den Ereignissen in Kars auf tieferen Ebenen wohl da sind.

Die Stadt Kars wird von Pamuk als kleine, überschaubare Version der Türkei inszeniert. Alle in der Türkei aktuell wichtigen Strömungen (normale Leute, Künstler, Journalisten, Polizei und Spitzel, Militärs, Kopftuchfrauen und natürlich die Islamisten) begegnen einem hier in Form von Individuen. Dieser Ansatz erlaubt es Pamuk, gesellschaftliche Strömungen zu durchbrechen und uns in Form von Einzelschicksalen nahe zu bringen.

Es gibt eben nicht "DEN Islamisten", hinter jeder weltanschaulichen Überzeugung steht ein Individuum, ein Mensch welcher an der Welt leidet und sich auf der Suche nach Antworten oft in Irrwegen verfängt.

Mir scheint ausserdem, dass Kars Liebe, Ipek, symbolisch für die Türkei steht. Er liebt sie heiß und innig, verbringt aber den Großteil seines Lebens fern von ihr. Hinzu kommt, dass sie sich ihm zwar hingibt, sich aber letztlich weigert, ihn nach Deutschland zu begleiten. Im Grunde ist er zwar zu ihr hingezogen und von ihr abhängig (Ipek ist auch ein Symbol seiner Mutter), aber er versteht sie nicht wirklich, sie bleibt ihm gleichzeitig ein ewiges Rätsel.

So gesehen ist Ipek zugleich die personifizierte Mutter, Muttergottheit, das ewig Weibliche und auch die Nation, und Kas ewiges Schwanken zwischen Liebe, Abhängigkeit und Resignation bezüglich ihr ist damit auch gleichzeitig Ursache seiner Leiden und Motor seiner Kreativität.

Wie ist es?
"Schnee" ist kein einfacher Roman für zwischendurch. Wer überhaupt kein Interesse hat an aktuellen Strömungen in der Türkei (oder in anderen islamisch geprägten Ländern), der wird diesen Roman schnell wieder aus der Hand legen.
Natürlich enthält der Roman auch viele andere Ebenen, und gerade auf der symbolischen Ebene gibt es eine Reihe von Leitmotiven, welche ihn auch unabhängig vom konkreten Beispiel "Türkei" interessant machen.

Mir persönlich hat "Schnee" sehr gut gefallen, geht es mir doch wie den meisten Deutschen so, dass ich zwar türkische Freunde und Bekannte habe, im Grunde aber von dem Land, dessen Volk den größten Teil an Einwanderern in Deutschland darstellt, beschämend wenig weiss.

Das Buch ist im Übrigen stellenweise mit erfrischendem, teilweise auch etwas zynischem Humor gespickt.

Der Schnee dient in dem Roman als Symbol in mehrfacher Hinsicht.
Als "Kollektiv"-Schnee ist der Schnee ein Symbol für Gott, für das Universale, das Allumfassende. Der Schnee ist konkret das Schicksal für Ka und für Kars, zumindest während der 3 Tage, in denen die Stadt komplett von der Außenwelt abgeschlossen ist.
An einer Schlüsselstelle des Romans jedoch zeigt sich, dass der Schnee als einzelne Schneeflocke auch für den Menschen, für seine Individualität, seine Träume, seine Geschichte und letzlich sein Sterben (und aufgehen im Kollektiv) steht.

Andere wichtige Symbole des Romans sind "Der Ort, an dem Allah nicht ist", das grüne Buch, in welches Ka seine spontan ihm eingegebenen Gedichte schreibt und die diversen Farben, welche immer wiederkehren.

Fazit
"Schnee" ist ein lohnender, aber anstrengender Roman. Für mich hat er zur Reflexion angeregt, war und bin ich doch mit meinem Urteil über Islamisten immer sehr harsch. Konfrontiert mit Islamismus neige ich zu allgemeinen, verurteilenden Aussagen und vergesse, dass hinter jedem Fanatiker ein Mensch steckt, den eine Mutter geboren und eine Gesellschaft geprägt hat.

Als Deutscher und Europäer war der Roman für mich hochinteressant da er mir eine relativ aktuelle Aufnahme über die geistige Lage in der Türkei gegeben hat. Sollten Pamuks Schilderungen der Spitzel und der folternden Staatsbeamten, des immer noch brisanten Kurden-Problems und der nicht aufgearbeiteten Geschichte (Armenier!) auch nur zu 30% zutreffend sein, dann ist die Türkei in der Tat noch sehr weit davon entfernt, ein wahrhaft europäisches Land zu sein - ganz unabhängig vom Lebensgefühl gewisser Istanbuler Kreise.

"Schnee" ist somit ein fordernder Roman, der aber aufgrund seiner Sprache dennoch geeignet ist für verschneite Tage, viele Tassen Tee auf dem Sofa und Reflexionen über Gott, das Leben und den ganzen Rest.

16 Dezember 2009

Alice Sebold: "In meinem Himmel" ("The lovely Bones")




In meinem Himmel: Roman


Dieser amerikanische Roman dürfte derzeit vermehrt Aufmerksamkeit geniessen, denn die Verfilmung von Peter Jackson ist inzwischen schon in vielen Kinos gestartet (hier in Irland läuft der Film "The lovely Bones" bereits).

Ich habe dieses Buch diesen Herbst gelesen, als die Tage immer kürzer wurden und die Landschaft immer trister. Es war das ideale Buch für die tägliche Bahnfahrt von und zur Arbeit, aber auch abends und am Wochenende konnte ich das Buch stellenweise nicht aus der Hand legen.

Worum geht es?Die Geschichte ist schnell zusammengefasst. Das Mädchen Susie Salmon ist ein normaler Teenager in einer normalen amerikanischen Kleinstadt der 1970er-Jahre. Sie ist eben in der Phase ihres Lebens angelangt, in welcher die erste kleine Romanze mit einem Schulkameraden sich beginnt zu entfalten, als sie eines kalten Dezemberabends von einem Nachbar in einem nahe gelegenen Maisfeld vergewaltigt und getötet wird.
Von "ihrem Himmel" aus verfolgt sie von nun an das Leben ihrer Familie und Freunde über die kommenden Monate, ja Jahre. Dabei dreht sich zunächst fast alles, was sie mitbekommt, um sie - die Menschen, die mit ihrem Verlust zurecht kommen müssen und deren verschiedene Arten, mit ihrem Verlust fertig zu werden.

Wie ist es?
Alice Sebold erzählt in "In meinem Himmel" sehr einfühlsam und teilweise äußerst spannend und schockierend die Geschichten von Susie's Familienangehörigen und Freunden. Auch die Geschichte und Persönlichkeit ihres Mörders wird dargestellt, und bei dem Blick in die seelische Leere und auf den "Dark Passenger", welcher in diesem Menschen zu wohnen scheint, konnte ich mich des schauderns nicht erwehren.

Es sind aber vor allem die Wege und Irrwege Ihrer Eltern, jüngeren Schwester und des kleinen Bruders, sowie der engsten Schulfreunde, welches dieses Buch so interessant machen. Die subtilen Verbindungen zwischen den Menschen in der Kleinstadt, und das leere Zentrum, welches als das Bindeglied dieses "Netzwerkes" die ermordete Susie ist, machen aus diesem kleinen, aber feinen Roman eine sehr lesenswerte Geschichte über die Unzulänglichkeiten unseres Lebens, die Sinnlosigkeit unserer Bestrebungen und Eitelkeiten im Angesicht des Todes, aber auch über die Schönheit wahrer Menschlichkeit.

Fazit:Lesen! Dieses Buch passt in die kalte Jahreszeit, es ist keine Strand- oder Urlaubslektüre, und kein Buch, dass man so schnell vergessen wird. Ich bin froh, dass ich es las, bevor der Film auf den Markt kam, denn im Laufe des Lesens habe ich eine sehr persönliche Beziehung zu Personen wie Susie's Vater aufgebaut, und die ersten Screenshots vom Film haben mich sehr enttäuscht, ich finde, einige Schauspieler (v.a. Susies Vater) sind so weit von der Buchvorlage entfernt, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass ich den Film so sehr geniessen werde wie ich das Buch genoss.


05 Dezember 2009

Mark Helprin: "Wintermärchen" ("Winter's Tale")

Mark Helprin: "Wintermärchen"

"Wintermärchen" ist eines jener Bücher, die einen auf eine Reise schicken und auch dann nicht mehr loslassen, wenn man den Buchdeckel nach der letzten Seite schon längst wieder zugeklappt hat.
Ich habe das Buch als Teenager in der Stadtbibliothek Böblingen entdeckt, als ich auf der Suche nach "etwas anderem" war (damals bestand meine Lektüre in der Hauptsache aus Wolfgang Hohlbein und Stephen King). Und es war wohl das Versprechen des Titels, dass mich mit diesem Buch etwas "fantasymässiges" erwarten würde, sowie die Jahreszeit - es war Winteranfang damals.

Wintermärchen spielt in New York, aber gleichzeitig auch in einer fabelhaften, wunderbaren und tragischen Welt - einem New York, in dem Wunder geschehen und sich die Gesetze von Zeit und Raum nicht so starr und phantasielos verhalten wie in der Welt unserer alltäglichen Erfahrungen.

Das Buch deckt grob 100 Jahre in New York ab, und die Stadt dient dem Autor als Kulisse, vor der er uns eine ganze Reihe von zunächst nicht miteinander in Beziehung stehender Charaktere vorstellt, Ihnen Zeit gibt, sich zu entfalten und tiefe Eindrücke in uns zu hinterlassen.
Dies ist eine der großen Stärken Mark Helprins: er vermag es, seinen Lesern die unterschiedlichsten Menschen und deren Schicksale, Überzeugungen und Lebenswege näher zu bringen.

Im Laufe des Romans verweben sich die Schicksale der Protagonisten mehr und mehr, es entsteht ein Netz aus Beziehungen und Begegnungen, wie man sie aus den später entstandenen Robert Altman - Filmen kennt.

Technik und Architektur vermischen sich hier mit Magie und Mystik, Journalismus, Business und Karriere mit Liebe und tiefer Romantik. Verbrechen mit Ehrhaftigkeit und über allem glitzern die Sterne in der eisig klirrenden Kälte eines jahrhundertelangen Winters.

Ein magisches Buch, ein Buch wie geschaffen für lange Winternächte am Kamin. Ein Buch, in welchem New York mit Sicherheit verklärt wird, dass aber auch eine Seite in mir anrührte, welche mich die ganze Welt in einem anderen, einem magischeren Licht sehen liess.