29 November 2015

Naceur-Charles Aceval: "Der Mann, der nicht sterben wollte. Märchen aus dem Maghreb."

Erzählt von: Naceur-Charles Aceval

Mit Vorwörtern von Prof. em. Hermann Bausinger und Dr. Seddik Bibouche

 

"Das Wort reist, und es findet immer sein Ziel."

 

Dies wird eine sehr subjektive Buchbesprechung, denn der Autor ist mein Vater und ich habe mit ihm gemeinsam die erste Rohfassung zu Papier gebracht, damals, 2007, als wir noch nicht wussten wie schwierig und langwierig es werden wird, einen Verleger zu finden.

Aber dieses Blog ist ja kein "ordentliches" Rezensionsblog. Der Verfasser hat nie Literatur fachlich studiert und es geht hier um mein Biblioversum, meinen ganz persönlichen Bücher-Raum im Netz.








Ein bisschen (mehr) Biographie und Autobiographie
oder: "Was Sie beim Lesen des Buches auf keinen Fall erfahren werden"

Ich kann weit ausholen. Das ist mein Blog, und ob Sie, lieber Leser, mir auf meiner Reise durch biographische und autobiographische Gefilde folgen werden oder nicht, kann mir zum Glück herzlich gleich sein.

Doch wo beginnen? Wahrscheinlich irgendwo zwischen Genesis 1,1 und jenem schicksalshaften Frühjahr 2007,  an dem mein damals noch sehr frischgebackener Märchenerzähler-Vater und ich uns zu unserem allmorgendlichen Ritual trafen.

Es war einmal.... vor immerhin schon über achteinhalb Jahren, da begab es sich im Dorfe Weil im Schönbuch, dass ein 31jähriger Arbeitsloser und Hartz-IV-Empfänger, der damals noch an der Endfassung seiner Magisterarbeit in dem Fache der Japanologie arbeitete, sich parallel aber schon auf Arbeitssuche befand, sich jeden morgen in seinen über 15 Jahre alten Golf II setzte und aus dem benachbarten Holzgerlingen in sein Heimatdorf und in die Wohnung seiner Eltern fuhr. Der Vater, ein ehemaliger Energieanlagenelektroniker, der auch schon etliche Jahre arbeitslos war (Denkanstoss: Ausländer, über 50, Doitschland - null Chance auf Anstellung), hatte aus der Not des Nichtstunkönnens eine Tugend gemacht und sich darauf besonnen, welche Talente und Schätze er in sich trage.

Zunächst war da seine Liebe zum Kochen. Viele Jahre bereits hatte der mittelalte Berber seine Familie nicht nur mit Geschichten, sondern vornehmlich mit seinen Kochkünsten verzaubert. Angefangen hatte dies früh, als das Heimweh in ihm die Sehnsucht nach dem Couscous seiner Mutter erweckte. Auch aus dieser Not hatte er eine Tugend gemacht (wie wir sehen werden, besteht darin Teil seiner Zauberkraft - er verwandelt den Schmerz in etwas Köstliches, das seinen Wert vor allem dadurch erhält, dass es mit anderen geteilt wird), und schon bald war er weit und breit berüchtigt als der kochende Alchemist von Weil im Schönbuch. Unsere Feste waren legendär - ob nun das klassische Couscous Royale oder andere Köstlichkeiten (seine Lammkeule hatte den pubertierenden Sohn nach dreimonatiger Fleischabstinenz wieder zum Fleischessen "bekehrt") - Charles Aceval war ein Star-(Hobby)koch und dazu noch ein beliebter Gastgeber. Und dies nicht nur wegen des roten Weines, den es in unserem Hause natürlich auch immer in Strömen gab. Sondern - natürlich - wegen der Ströme von Geschichten, Anekdoten, Witzen oder Bonmots, die Charles ganz den Gästen und Gegebenheiten anpasste. Dass er dabei oft auch mal über die Stränge schlug, davon weiß seine Frau, davon wissen seine Kinder zu berichten. Doch das ist eine andere Geschichte und diese muss nicht erzählt werden.

Doch zurück zu jenem magischen Frühjahr 2007. Es war ein schwäbischer Frühling, wie es schon viele gab. Die Bäume schlugen aus, die Allergiker allergikten, und die Luft am Rande des Dorfes war voll von Neuanfang und Hoffnungen.

Das tägliche Ritual war das Folgende: der Sohnemann entstieg, damals noch weniger schwerfällig als heute, seinem Golf II, der Vater war in der Regel schon längst auf, hatte bereits seinen Morgenspaziergang über die Feldwege von Weil im Schönbuch gemacht und setzte nun eine Karaffe köstlichen Kaffees auf, in der Regel mit Zimt oder Galgant gewürzt und natürlich nach Berberart stark gesüßt.

Und dann setzten sie sich in das Arbeitszimmer. Der Sohn vor dem Computer, der Vater oft auf dem Boden - ganz wie im Maghreb eben. Und dann begann er, ein Nomadenmärchen zu erzählen. Nach dem ersten Durchlauf unterhielt man sich erst noch über die Geschichte, dann schrieb der Sohn eine Rohfassung auf, und versuchte dabei, die Worte des Vaters, die sehr natürlich flossen und nicht schriftsprachlich formuliert waren, eben in jene Schriftsprache zu übersetzen, ohne dass sie ihren Geist, ihre Essenz verlören. Das war ihm nur möglich, weil er schon als Kind viele Geschichten von den Eltern zu hören bekam. Vom Vater eben Märchen aus den algerischen Hochebenen, von der Mutter die guten Hausmärchen Grimmscher Herkunft.

Es war eine schöne Arbeit, denn es verband Vater und Sohn wie ein Band, dass zuvor nur unbewusst zwischen ihnen bestanden hatte, jetzt aber deutlich hervortrat. Der Sohnemann, der als starker Introvert schon in seiner Kindheit (vielleicht mit sieben, acht Jahren) so Dinge sagte wie: "Ohne Freunde könnte ich leben, aber ohne Bücher niemals!". Der Sohn, der überallhin seine Bücher mitnahm, und sich auch auf Feiern bei Bekannten und Freunden lieber mit den Romanhelden als mit den anwesenden Personen beschäftigte. Der schon Weltflucht betrieb, lange bevor er wusste, dass dies überhaupt ein Wort war.

Und der Vater, der eher extrovertierte, der die Energie der Gäste brauchte, schon damals, ein Publikum, mit und zu dem er sprechen konnte. Den die Priester der örtlichen Neuapostolischen Kirche vergeblich versuchten, zum Glauben zu bekehren, die aber immer wieder kamen, weil sie die Gespräche und den angebotenen Rotwein so attraktiv fanden. Ja, die teilweise sogar - und ich behaupte das steif und fest! - wegen dieser Gespräche ins Zweifeln kamen und fast vom Glauben abfielen. Und wenn sie schon nicht gleich ganz abfielen, dann doch in ihren Ansichten weniger absolut und wesentlich offener, toleranter wurden.

Denn schon damals war der Vater ein Botschafter gewesen in der Enge der schwäbischen Dorfwelt. Ein "Araber", (der manchmal auch ganz praktischerweise als "Franzos" durchging, wenn er es mit etwas einfältigeren Zeitgenossen zu tun hatte) - ein Unbekannter und nicht ganz greifbarer. Einer, der in Algerien Sport studiert hatte, dem aber in Deutschland noch nicht einmal ein Hauptschulabschluss attestiert wurde. Und der in seiner Not und geistigen Einsamkeit zu Büchern griff. Zu Schopenhauer, zu Tucholski, und zu vielen anderen. Bald fühlte er, dass seine Arbeitskollegen ihn nicht immer verstanden. Zu hoch gegriffen waren oft seine Gedankengänge. Doch aufgewachsen in Algerien, wo man noch obrigkeitshöriger ist als im alten Preußen, fand er keinen Anschluss zu Menschen, bei denen er auf Verstädnis, ja auf Freundschaft hätte hoffen können - es fehlte ihm am Mut, Kontakte zu diesen "höheren Kreisen" zu suchen.

Schließlich kam die Arbeitslosigkeit. Wie eine bleierne Weste senkte sich die Banalität des Alltags auf ihn. Tagein, tagaus wusste er nicht, was er mit sich und all der Zeit anfangen sollte. Die Gänge auf das Arbeitsamt waren deprimierend - es gab keine Hoffnung auf eine Neuanstellung, soviel wurde ihm bald klar gemacht.
Und so musste er sich in einem Alter, in dem andere schon an die Frührente anfangen zu denken, an eine Neuorientierung seines Lebens machen. Die Kinder waren flügge geworden, die erzieherische Aufgabe war erfüllt - was nun?

Die Rettung kam in Gestalt seiner Schwester Nora. Diese war in Frankreich bereits eine bekannte Geschichtenerzählerin und Autorin vieler Bücher für Kinder und Erwachsene. Sie hatte die Materie studiert, hatte eine Magisterarbeit über die mündlichen Erzähltraditionen im Maghreb geschrieben, ja war auf ethnografische Fahrten durch Algerien gereist und hatte mit einem Diktiergerät bewaffnet alte Mütterlein beim Erzählen noch viel älterer Geschichten aufgezeichnet. Sie hatte Charles eingeladen, sie auf eine Märchenkonferenz an die Loire zu begleiten. Er ging mit als der Bruder und als ausgezeichneter Couscous-Koch. Und dort geschah es - wie im Märchen - dass er in einem Loire-Schloss landete und der Besitzer ihn abends aufforderte, auch etwas zu erzählen. Als Bruder der berühmten Erzählerin habe er doch sicherlich auch etwas davon in sich. Er sei ja bestimmt mit denselben Geschichten groß geworden. Das war er. Und die Aufforderung zum Erzählen war wie ein "Sesam öffne Dich" für Charles gewesen - wo davor nichts war als die Frage nach der Aufgabe, sprudelte eine köstliche Quelle an Geschichten. Es hörte gar nicht mehr auf - der Damm war gebrochen.

Seitdem kennen alle Raben und auch so mancher Bussard und streunende Katze den Märchenerzähler von Weil. Denn seitdem geht er morgens, manchmal auch mittags, seine Runden über die Felder am Rande der Ortschaft, und erzählt seine Geschichten dem Himmel, den Bäumen, den Tieren, wie einst Franz von Assisi. Er stellte erstaunt fest, dass die Märchen nicht nur alle bereits in ihm waren, sondern auch, dass sie viel mehr waren als aufgezeichnete oder gemerkte Information. Sie waren wie Lebewesen. Und je mehr Geschichten er erzählte, umso mehr neue Geschichten wurden wach und wollten auch hinaus und erzählt werden. Denn das Wort reist, und es findet immer sein Ziel.

Anfangs, also bereits vor 2007, hatte Charles sich vor allem in Tübingen und Umgebung mit dem Konzept "Couscous und Märchen" versucht, einen Namen zu machen. Beizeiten machte er für das Mittagsmenü im Café-Bistro "LaTour" im Tübinger Französischen Viertel die Speisekarte. Auf Feste (runde Geburtstage, vor allem) wurde er eingeladen. Anfangs stand das Essen im Vordergrund, aber bald merkte er, dass der "Nachtisch" an Geschichten - seien es Märchen und Weisheitsgeschichten aus dem Maghreb, seien es biografische Erzählungen aus seiner Kindheit im Algerienkrieg - auf einen viel größeren, und beinahe unstillbaren Hunger bei seinen Auftraggebern stießen. Und so wagte er erste Schritte ohne das kulinarische Drumherum.

Der Sohn musste da an eine Episode aus seiner Kindheit in Weil im Schönbuch denken. In der Hartmannstraße waren die Kinder damals, Ende der 70er-Jahre, alle mit Fahrrädern bestückt gewesen (damals gab es das Konzept des Fahrradhelmes noch nicht, trotzdem sind alle unbeschadet groß geworden). Er war stolzer Besitzer eines knallroten Fahrrades, natürlich mit Stützrädern. Da die Kinder aber die ganzen Sommerferien hindurch jeden Tag für viele Stunden mit ihren Rädern die Straßen auf- und ab fuhren, standen seine Stützräder bald immer weiter ab. Ein älterer Nachbar konnte das irgendwann einmal nicht mehr länger ertragen und hat die Stützräder abgeschraubt. Der Sohn war bis zum Schluss der felsenfesten Überzeugung gewesen, ohne die Stützräder sofort umfallen zu müssen - obwohl er sie schon längst nicht mehr nutzte. Natürlich ging es von da ab auch ohne.

Zu dem Zeitpunkt, an dem der Vater seine Stützräder peu à peu abschraubte, wanderte der Sohn leider nach Dublin aus. Wegen seines Vornamens und seiner Studienwahl war es ihm nicht gelungen, eine Arbeit in Deutschland zu finden. In Großbritannien und Irland jedoch boomte es damals noch, und man konnte sich vor Jobangeboten kaum retten. Als ein Headhunter der Firma Google ihn am Ostermontag 2007 anschrieb, wollte er die E-Mail bereits als Spam löschen. Vier Monate später kam er mit Sack und Pack (und circa 800 Büchern aus 31 Jahren Leseleidenschaft) im trüben Dublin an.

Den steigenden Stern seines Vaters sah er aus der Ferne mit Freude, Stolz und immerwährendem Schmerz - nicht direkt teilhaben zu können an seinen Freuden, Auftritten und Aktivitäten war und ist ein Stachel in seiner Seite.

Einer der frühen Auftritte des Vaters war allerdings in Dublin gewesen! Im Frühjahr 2008 hatte der Sohn Kontakt mit dem dortigen "Narrative Arts Club" aufgenommen, und dieser organisierte freundlichkeitshalber die sehr stilvollen Räume im "Library Room" des Central Hotel. Gäste waren vor allem KollegInnen aus deutschsprachigen Teams, aber auch andere "Expats" kamen, denn man hatte am hiesigen Goethe-Institut einen Aushang angebracht.

In Deutschland folgten ein Radio-Interview mit dem Tübinger Alternativ-Sender "Wüste Welle", eine Einladung zu "Kaffee oder Tee" des SWR Fernsehens; schließlich eine 30-minütige Dokumentation des SWR, "Der Märchenerzähler", die man heute noch auf YouTube anschauen kann.

Ein Meilenstein war ein neunseitiges Special in der bundesweiten Zeitschrift "Brigitte Woman", welches seinen Bekanntheitsgrad erheblich vergrößerte und ihm Aufträge in ganz Deutschland, aber auch in Österreich und der Schweiz bescherte.

Trotz all dieser relativ frühen Erfolge fand sich weit und breit kein Verlag, der Interesse an dem Buchmanuskript hatte - von den renommierten Verlagen hagelte es Absagen. Und so schlummerte das Buchprojekt, wie einst die Märchen selbst, und wartete auf einen Märchenprinzen, der es wach küsste.

Das Buch an sich
So, nun aber zum Buch selbst. Wie so oft im Leben war es eine Mischung aus Beharrlichkeit und günstigen Synchronizitäten, die letztlich dazu führten, dass der lokale Papermoon-Verlag Interesse an dem Buchprojekt fand. Eine auf persönlichen Beziehungen beruhende Angelegenheit, was dazu führte, dass das Buch auch persönlich und persönlich Ansprechend geworden ist!

Geadelt wird das Buch zudem durch die Vorwörter zweier Tübinger Autoritäten. Professor em. Hermann Bausinger, Volkskundler und Germanist, der den Lehrstuhl für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen begründete und somit einen Meilenstein der Volkskunde in die Welt getragen hat. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Erzählforschung, und er ist Mitherausgeber "Enzyklopädie des Märchens".
Dr. Seddik Bibouche, ein persönlicher Freund der Familie, stammt aus derselben Gegend in Algerien und ist Sozialwissenschaftler mit einem starken Fokus auf Migrations- und Integrationsforschung und sehr viel Praxiserfahrung aus seiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.

Die Vorworte an sich sind den Kauf des Buches schon wert, und sie adeln die Arbeit natürlich ganz erheblich mit ihrem wissenschaftlichen Wert.

Was ist also nun der "Mann, der nicht sterben wollte"? Nun, für den Sohn war diese Geschichte immer eine eher lustige, oder tragi-komische Angelegenheit. Denn das klassische Märchen vom "Mann, der nicht sterben wollte" ist für sich genommen kurz und kompakt, mit einem unerwarteten Ende. Erst bei näherer Betrachtung erkennt man die Weisheit in der Geschichte.

Die Idee des Vaters war es schon damals gewesen, ein Märchenbuch zu schreiben, dass anders ist als die üblichen Märchenbücher am Markt. Man kennt sie ja, die dicken Schinken mit "Märchen aus x, Märchen aus y", und in der Regel verstauben sie in den Regalen oder vermodern in Flohmarktkisten.

Natürlich besitzt der Vater selbst viele dieser Bücher, denn er geht auch gerne auf Entdeckungsreise in andere Kulturkreise, und ist immer wieder überrascht, wie universal die Märchen letztlich doch sind. Oder wie Professor Bausinger sagt: "Märchen sind Allgemeinbesitz; sie gehören niemandem."

Die Idee des Vaters war es nun gewesen, den Protagonisten, den "Mann, der nicht sterben wollte" auf eine längere Reise zu schicken. Ähnlich dem Dekameron (oder 1001 Nacht wohl eher...) dient die Titelgeschichte als Rahmenhandlung, in dessen Verlauf viele weitere Geschichten erzählt und erlebt werden. Der Leser begleitet den "Mann, der nicht sterben wollte" somit auf seiner Queste nach der Unsterblichkeit. Hier schlägt der Vater eine weitere Brücke über die Kulturen: waren die Kreuzritter, die Blut, Tod und Verderben in den arabischen Raum brachten, nicht auch in einer mythischen Dimension auf einer Queste nach Unsterblichkeit, nach dem Heiligen Gral? Nun, auch dieses Thema ist nicht Alleinbesitz eines Kulturkreises, sondern ist eben auch Thema dieses Märchens, wenn es hier auch nicht um einen Becher geht und religiöse Figuren keine Rolle spielen.

In den heutigen Zeiten, in denen der Sohn es oft hinderlich findet, dass seine Eltern ihm einen arabischen Namen gaben (damals, in den 70ern, als der Feind noch der Russe war), wird ihm immer wieder bewusst, wie grundlegend wichtig die Arbeit des Vaters ist. Neulich war er beim Sächsischen Märchenfestival und hat Kindern aus Sachsen die Welt des Orients näher gebracht. Fazit? Kinder kennen keinen Rassissmus. Sie sind offen, neugierig und können noch auf die Stimme des Herzens hören. Auch im Pegida-Land Sachsen. Sachen gibts.

Das Orient-Bild vieler Europäer ist leider verschoben. Das trifft leider aber auch auf hier lebende Migrantenkinder in der zweiten, dritten oder gar vierten Generation zu, denen die hiesigen Gesellschaften auf Grund von Aussehen oder Namen die Integration immer noch erschweren, und die zu romantisierenden Vorstellungen über die Kulturen der Länder ihrer Vorfahren neigen.

"Kommunikation, wenn sie richtig betrieben wird, führt zu Kommunion", sagte der Vater bereits vor vielen Jahren oft. Es ist das Wort, der Austausch des Wortes, das die Menschen verbindet. Wo schweigen herrscht, wird Ignoranz, Angst und letztlich Hass und Gewalt Tür und Tor geöffnet.

Wo wir kommunizieren, wirklich kommunizieren, wächst Verständnis. Wir sind ähnlicher, als uns bewusst ist, ähnlicher, als unsere Regierungen uns glauben machen. Unsere Geschichten sind universell wie die Märchen. Der "Lokalkolorit" mag anders sein, aber wir alle sind auf diesem Planeten auf Gedeih und Verderb einer Sache ausgeliefert: uns selbst.


28 November 2015

Hermann Hesse: Gesammelte Werke - Band 2 - Unterm Rad - Diesseits


Gesammelte Werke 2 - Unterm Rad - Diesseits
(werkausgabe edition suhrkamp, Gesammelte Werke in 12 Bänden, Auflage 1976)
I. Unterm Rad
"Es war etwas in ihm, etwas Wildes, Regelloses, Kulturloses, das musste erst zerbrochen werden, eine gefährliche Flamme, die musste erst gelöscht und ausgetreten werden. Der Mensch, wie ihn die Natur erschafft, ist etwas Unberechenbares, Undurchsichtiges, Gefährliches. Er ist ein von unbekanntem Berge herbrechender Strom und ist ein Urwald ohne Weg und Ordnung. Und wie ein Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muss, so muss die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen und gewaltsam einschränken; ihre Aufgabe ist es, ihn nach obrigkeitlicherseits gebilligten Grundsätzen zu einem nützlichen Gliede der Gesellschaft zu machen und die Eigenschaften in ihm zu wecken, deren völlige Ausbildung alsdann die sorgfältige Zucht der Kaserne krönend beendigt."
 Unterm Rad - wer kennt diesen Roman nicht? Wer hatte ihn nicht als Schul(pflicht)lektüre verordnet bekommen? Wahrscheinlich einer der meistgelesenen Romane von Hermann Hesse. Und bei all meiner Liebe zum Autor - bis zu diesem Jahr hatte ich ihn nie gelesen. Angefangen ja (ich kam immer nur bis zur Aufnahmeprüfung in Stuttgart, dann wurde mir langweilig) aber niemals beendet.
Wie kommt es? Nun, zum Einen weil mich die Thematik zur "Hochzeit" meiner Hesse-Begeisterung nicht wirklich interessierte. Ich war angezogen von seinen späteren Werken, vom spirituellen "Siddhartha" (meinem ersten Hesse-Roman), vom seelenzerfleischenden "Steppenwolf", von der Selbstfindung im "Demian" und natürlich dem Widerstreit zwischen Wissen und Schönheit in "Narziss und Goldmund". Die "Morgenlandfahrt" war mir Parabel auf mein frühes Interesse an der Freimaurerei.
Den berühmtesten seiner frühen Romane (eben "Unterm Rad") sowie den krönenden Abschluss seines Lebenswerkes ("Das Glasperlenspiel") hatte ich jedoch nie gelesen (Letzteres auch heute noch nicht).
Doch zurück zum Gegenstand dieses kleinen Aufsatzes. Unterm Rad. Mir war seit meinem ersten Semester Japanologie auch oft gesagt worden, dass "alle" Japaner Hesse wegen dieses Romans kennen, und das wundert mich nicht, dürfte sich doch so ziemlich jeder Japanische Schüler in der Person des Protagonisten, des Kindes Hans Giebenrath, wiedererkennen. 
Ein "Wunderkind" aus dem schwäbischen Teil des Schwarzwaldes (Calw), schafft er es als einziger Sohn seiner Stadt in Jahren, auf das renommierte Kolleg zu kommen, in welchem die schwäbischen Priester seit Generationen ausgebildet werden. Ins Kloster Maulbronn muss er also, und dort findet er heraus, dass er zwar der hellste Kopf in Calw war, hier aber die hellsten Köpfe des Landes versammelt sind und er jetzt nicht mehr der "Big Fish" im kleinen Dorfteich ist.
Seine Freundschaft mit dem emotional instabilen Künstler Hermann Heiler (klarer Hermann-Hesse Alter-Ego) wird dem armen Giebenrath zum Verhängnis - die beiden ungleichen Buben verbindet rasch eine Freundschaft griechischen Ausmaßes, und die schulischen (und geistigen) Leistungen von Hans lassen schnell und spürbar nach. Der Erfolgsdruck macht ihn zudem krank, und so wird der anfangs als "Geheimtipp" gehandelte Musterschüler binnen eines Jahres zur Enttäuschung der Schule und seiner Heimatstadt - und nach Hause zu seinem Philistervater geschickt.

Zurück in Calw bleibt dem armen "drop out" nichts anderes übrig, als eine Handwerkerlehre anzufangen, was dem hoch geistigen Buben jedoch physisch schwer fällt.

Der Roman endet erwartet tragisch und unerwartet abrupt - ich kann nicht umhin, dass ich den Roman (oder die Novelle?) enttäuscht und mit einem bitteren Beigeschmack zur Seite legte.

Kerngedanken zu "Unterm Rad":

Eine Schlüsselszene der Geschichte ist eine Standpauke von Hans Giebenrath im Büro des "Ephorus" (Schulleiters) von Maulbronn. Durch den ständigen Druck, die daraus folgenden Kopfschmerzen und Erschöpfungszustände von Hans Giebenrath und auch durch die Freundschaft mit Hermann Heiler hat Hans - einst der "beste Hebräiker der Schule" im Hebräischen einen ständigen Leistungsabfall gezeigt. Zunächst väterlich-freundschaftlich erkundigt sich der Ephorus nach den Gründen, probt hier und da, empfiehlt, "nicht nachzulassen", sonst "käme man unters Rad" und wird dann - ganz Inspektor-Columbo-mässig - gegen Ende der Sitzung sehr unväterlich und fordernd, verbietet Hans quasi weiteren Umgang mit Hermann und setzt ihn so noch mehr unter Druck. In der Folge zerbricht der Junge auch Stück für Stück an der "Gesamtsituation".

Für mich faszinierend an dem Roman war, dass ich es hier wahrhaft mit einer "first hand study" der Zustände an einer schwäbischen Eliteschule gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu tun hatte. Der preußische Einfluss ist klar - Untertanenmentalität und Gehorsam, ja Fügsamkeit vor der Obrigkeit, sei sie religiös oder staatlich, sind hier die Tugenden, nach denen die "rohen, wildwüchsigen" Jünglinge hin erzogen werden müssen. Der Schritt zu den blinden, jubelnden jugendlichen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg Lieder schmetternd an die Front gefahren sind um für Kaiser und Heimat jämmerlich zu krepieren ist hier klar vorgezeichnet.
Für mich als im Schwäbischen aufgewachsenes Kind der 70er-Jahre war dies auch eine Lektion, wie die Schwaben so gar nicht so anders waren als die Preußen. 

Die "Leistungsgesellschaft" von heute war schon damals, zumindest in den Elite-Kreisen, ab- und vorgezeichnet. Max Weber hat die "protestantische Ethik" für den Aufstieg des Kapitalismus und den Erfolg der USA zitiert, und hier kann man aus erster Hand lernen, wie die Mentalität der Pietisten diese Ethik "in natura" lebte (Hesses Eltern waren strenge, pietistische Missionare, die es dem jungen Hermann nie verziehen hatten, dass er Dichter, und somit ein für den Herrn und die Kirche verlorener Sohn, wurde).

Nun bin ich keinesfalls antiautoritär erzogen worden, aber wenn man "Unterm Rad" als Studie über die Erziehung meiner Großelterngeneration liest, wird klar, warum meine Elterngeneration zu diesen neuen, radikalen Erziehungsmethoden neigte. Das Pendel schwingt wohl immer erst in Extremen, bevor es sich dann - wenn alles gut läuft - beruhigt.

II. Diesseits
Diese Sammlung an Erzählungen sagte mir im Unterschied zu "Unterm Rad" vor dem Lesen überhaupt nichts. Ich hätte nicht einmal sagen können, dass Hermann Hesse überhaupt solche Erzählungen verfasst hätte.

Nun, circa zwei Monate nach dem ersten Lesen der Geschichten bleiben bei mir nur Versatzstücke haften. Es sind fast allesamt Geschichten aus der Jugend von jeweils unbekannten Protagonisten, aber überall sieht man, dass es um biographische Elemente geht.
In der "Marmorsäge" geht es um eine unglückliche Liebe, die tragisch endet, und an der Hesse wieder einmal exemplarisch die gesellschaftlichen Zwänge der Klein- und Kleinstbürger auf dem Lande darstellt.
"Aus Kindertagen" berichtet genau von solchen, und der ersten Erfahrung des Protagonisten mit dem Tod, der einen etwas älteren Buben nach langer Krankheit ereilt.
"Eine Fussreise im Herbst" ist eine fast mystische Rückreise in die späte Jugend und zur ersten, längst verheirateten Jugendliebe, die melodramatisch mit einem meiner Lieblingsgedichte Hesses endet: "Im Nebel".
"Der Lateinschüler" wiederum spielt mit der ersten Liebe und dem "Leben lernen" eines Jünglings, der zum ersten Mal ein eigenes Zimmer fern der Heimat bewohnt. 
"Heumond" ist eine Variation der Geschichte der ersten Liebe, ist "Sturm und Drang" im kleinbürgerlichen Gewande, kommt sehr unschuldig und ohne große Dramen daher, schildert aber im Detail die Veränderungen der Wahrnehmung und des Empfindens, die mit dem "Erwachsen werden" einhergehen und zeigt, welch feines seelisches Gespür Hesse hatte.
"Schön ist die Jugend" ist die Geschichte eines jungen Mannes, der nach einigen Jahren im Beruf und in der Fremde zum ersten Mal und über den ganzen Sommer hinweg wieder ins kleinstädtische Zuhause kommt. Sehr zärtlich erfühlt man hier, was Heim- und Fernweh bedeuten und wie der einmal Ausgewanderte es nimmer schafft, in der einstigen Heimat wieder Fuß zu fassen. Diese Geschichte fand ich am Schwierigsten zu lesen, denn in ihr fand ich viel persönliches und schmerzhaftes - Gefühle, die ich im Alltag versuche, zu unterdrücken.
"Der Zyklon" schließlich erzählt die Geschichte eines "ehemaligen Buben", der nun als junger Mann symbolisch an einem Tag, an dem ein schwerer Sturm seine Heimatstadt beschädigt und vielerorts für immer verändert, lernt, dass die Tür zu seiner Jugend und Kindheit für ihn von nun an für immer verschlossen ist.
"In der alten Sonne" schließlich ist die seltsamste Geschichte von allen. Hier ist Hesse als "Alter Ego" oder gar Protagonist meiner Ansicht nach gar nicht vorhanden. Hier geht es um eine ehemalige Gaststätte, die nun als eine Art sozialer Unterkunft für mittellos gewordene alte Männer dient, und von den teils tragischen, teils idiotischen "Abenteuern" einiger ihrer Bewohner handelt. Eine Geschichte, die irgendwie nicht in das Gesamtbild der Sammlung passen will.

Fazit:
Alles in allem fand ich das Lesen von "Diesseits" teilweise unterhaltsam, aber stets auch mühsam. Teilweise, weil manche Geschichten mich dann doch auch sehr nostalgisch und melancholisch stimmten, teilweise weil es mir schwer fiel, mich auf die Charaktere und das allgemeine "Setting" einzulassen. Als Gesamtwerk betrachtet erscheint es mir, Hesse hätte sich hier von James Joyce beinflussen lassen, denn die Geschichten fangen tendenziell in der früheren Kindheit und Jugend an, enden dann aber im Alter, ganz so wie in Joyces "The Dubliners".

Wer aus dem Schwarzwald oder dem Schwäbischen stammt, der findet hier sicherlich Versatzstücke aus der Heimat wieder, für alle anderen dürfte die Lektüre von "Diesseits" eher karge Kost sein, quasi "für Fans" des Autors.

18 Oktober 2015

Hermann Hesse: Gesammelte Werke - Band 1 - Gedichte - Frühe Prosa - Peter Camenzind. Werkausgabe Edition Suhrkamp.






Hermann Hesse und ich
Hermann Hesse war wohl der erste Autor von “richtiger” Literatur, den ich ernsthaft las. Bis zum Alter von 17 Jahren umgab ich mich fast ausschließlich mit Büchern aus der Fantasy- und Science-Fiction - Ecke, die einzigen Ausflüge in die Welt der Klassiker stellten die Pflichtlektüren der Schule und für Jugendliche romanisierte Fassungen der griechischen Sagen des Altertums dar.

Hesse war also der erste Autor aus dem Bereich der “E-Literatur” (manche Literaturkritiker würden wohl auch seine Werke eher in den Bereich der “U-Literatur” stellen, ich persönlich halte von dieser überholten Unterteilung nicht viel; elitärer Unfug eben), den ich mit Leidenschaft las.

Der “Siddhartha” war mein erster Hesse-Roman, ich war 17 und frisch verliebt und dieses Buch öffnete mir die Tür heraus aus meinem schwäbischen Dorf und der christlichen Erziehung und hinüber in den verheißungsvoll ausschauenden “Osten”. Es folgten (in nicht mehr nachvollziehbarer Reihenfolge) mein Kirchenaustritt, die Entdeckung des Yoga und Yogananda’s “Autobiographie eines Yogi”, der Besuch diverser Esoterik-Messen in Stuttgart und im Tübinger “Casino”, die Beschäftigung mit tibetischem und japanischem Buddhismus und schließlich der Entschluß, nach der Lehre entweder Tibetologie in Freiburg oder Japanologie in Tübingen zu studieren, natürlich gepaart mit Religionswissenschaft.

All dies geschah, und es gab mehrere beeinflussende Schlüsselfaktoren auf diesem Weg der Entdeckungen, aber ausgelöst hat dies in der Tat Hermann Hesse. Vielleicht lag es am ähnlichen “kulturellen Code” - Hesse kam aus Calw, ich aus Weil im Schönbuch, Orte, die nicht einmal 40 Kilometer auseinander liegen. Eine Großmutter Hesse’s kam angeblich sogar aus meinem Heimatort.

Hesse wuchs auf in einem streng pietistischen Elternhaus, wo alleine der Wunsch, “Dichter” zu werden eine Sünde war und der erste Schritt auf dem “breiten Pfad” zur Hölle. Ich wurde in der beengten Gemeinde der Weilemer Neuapostolen erzogen, und wäre da nicht mein agnostischer, nordafrikastämmiger Vater gewesen, höchstwahrscheinlich auch in dieser Gemeinde geblieben und womöglich auch selbst noch Priester geworden.

Was bei Hesse die Dichtung war, war bei mir die Liebe zu Fantasy, Rollenspielen und der Sehnsucht nach einem “Reich der Feen und Elfen”, was ich zeitweise erhoffte, irgendwann einmal in Irland zu finden, welches in den 80er Jahren eine magische Anziehungskraft auf mich ausübte.

Nun habe ich von Hesse einige Romane gelesen, aber längst nicht alle. Seine Gedichte sind mir gut bekannt, seine frühe Prosa war es aber bis vor kurzem noch gar nicht. Seit gut 10 Jahren besitze ich zwar die Werkausgabe in zwölf Bänden, aber sie fristete ein unberührtes Dasein in meinem Bücherregal (wie so viele andere Bücher, deren Rezensionen hoffentlich in den kommenden Jahren ihren Weg in dieses Blog finden werden).

Wie dem auch sei, hier nun erst einmal meine Ansichten über den ersten Band, der aus drei Teilen besteht: ausgewählten Gedichten, der frühen Prosa und seinem ersten Roman, Peter Camenzind.


Gesammelte Werke 1 - Gedichte - Frühe Prosa - Peter Camenzind
(werkausgabe edition suhrkamp, Gesammelte Werke in 12 Bänden, Auflage 1976)

  1. Gedichte

Welkes Blatt
Jede Blüte will zur Frucht,
Jeder Morgen Abend werden,
Ewiges ist nicht auf Erden
Als der Wandel, als die Flucht.

Auch der schönste Sommer will
Einmal Herbst und Welke spüren.
Halte, Blatt, geduldig still,
Wenn der Wind dich will entführen.

Spiel dein Spiel und wehr Dich nicht,
Laß es still geschehen.
Laß vom Winde, der dich bricht,
Dich nach Hause wehen.

Kleiner Gesang
Regenbogengedicht,
Zauber aus sterbendem Licht,
Glück wie Musik zerronnen,
Schmerz im Madonnengesicht,
Daseins bittere Wonnen…

Blüten vom Sturm gefegt,
Kränze auf Gräber gelegt,
Heiterkeit ohne Dauer,
Stern, der ins Dunkel fällt:
Schleier von Schönheit und Trauer
Über dem Abgrund der Welt.

Die Gedichte Hesse’s lagen mir in meiner “Sturm und Drang”-Phase sehr am Herzen. Mit 17, 18 durchlebte ich mein “weltanschauliches Ringen”, stellte alles in Frage, was Teil meiner (christlichen) Erziehung gewesen war, wollte aber das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und suchte für meine spirituellen Bedürfnisse einen neuen “Weg”. Es war das “Fin de Siècle”, und in Europa erlebte in den 1990er Jahren die “Esoterik” einen großen Boom. Sogar in Tübingen machte ein Esoterik-Laden auf, es gab Esoterik-Messen und auch ich las eifrig in diesem Gebiet, ständig bemüht, einen Mittelweg zwischen “echter” Spiritualität und markschreierischem Blödsinn zu finden (denn meinen Verstand konnte ich auch damals nicht abschalten, und so manche Blüte dieses Booms kam mir auch da schon recht unvernünftig vor).

So mancher bunten Gestalt begegnete ich damals. Und ob es nun westliche Wege wie Okkultismus, Magie, Paganismus; der von der kirchlichen Tradition losgelöste Engelsglaube oder indianische Heilrituale waren oder eben östlich angehauchte Traditionen aus dem buddhistisch-hinduistischen Umfeld - immer war es eine wichtige Aufgabe, in dem ganzen glitzernden Wirrwar und der offensichtlich wirtschaftlich-monetär motivierten Schar von Anbietern jene Körnchen Ernsthaftigkeit und “echter Tradition” zu finden, die einen wirklich innerlich und moralisch reifen lassen würden. Ein guter Leitfaden in jener Zeit war für mich die Grundphilosophie meines Vaters gewesen, Menschen mit Misstrauen zu begegnen, die zuviel Enthusiasmus an den Tag legten.

Hesse’s Gedichte kamen mir damals sehr entgegen, denn ihre hohe Emotionalität und Dramatik entsprach sehr oft meiner inneren Gefühlswelt. Gedichte wie “Nach dem Fest”, “Nebel” oder auch “Stufen” waren dabei die Prominentesten, wenn ich in lockererer Stimmung war, auch mal der “Mann von 50 Jahren”.

In dieser Ausgabe sind Gedichte aus allen Lebensaltern Hesse’s vertreten, und mit dem jetzigen Abstand von meiner eigenen Jugendzeit kommen sie mir teilweise zu emotional vor, es wundert mich manchmal, wie Hesse auch im Alter immer noch eine Gefühlswelt pflegen konnte, die derjenigen meiner Jugend entsprach. Manche Gedichte kann ich heute nur noch überfliegen, bei anderen muss ich innerlich lächeln, aber vor allem seine auf den ersten Blick harmlos daherkommenden Naturbetrachtungen (die ich damals als Jugendlicher eher uninteressiert überflogen hatte) erscheinen mir jetzt in einem neuen, hoch relevanten Licht. Denn wo der junge Hesse seine Gefühle vor allem in Liebesthemen zum Ausdruck bringt, erscheint der ältere Hesse eine beizeiten starke Nostalgie zu fangen, beizeiten eine düster-realistische Nähe des Todes zu atmen.

  1. Frühe Prosa
Die frühe Prosa, hier vertreten mit diversen Erzählungen unter dem Titel “Eine Stunde hinter Mitternacht” und Geschichten rund um den Hesse-Alter-Ego “Hermann Lauscher” las ich dieses Jahr zum ersten Mal.
Teilweise ist die etwas überschwülstige Romantik der ersten Prosastücke für mich hart zu ertragen - es ist einfach zu lange her, seitdem ich ernsthaft verliebt war, und nichts steht mir derzeit ferner im Leben als eben jene Gefühle von Liebe und verliebt zu sein...

Der “Hermann Lauscher” Zyklus hat mir hingegen sehr gefallen. Die Erzählungen um den unsteten Studenten, auch eine Geschichte (“Die Novembernacht”), die im Tübingen des späten 19. oder sehr frühen 20. Jahrhundert spielt (und in den Kneipen der Tübinger Altstadt), hat in mir liebe Erinnerungen geweckt sowie sehr viel Nostalgie. “Lulu” wiederum atmet pure Magie und ist Hesse’s Verbeugung vor E.T.A. Hoffmann. Die “Schlaflosen Nächte” wiederum triefen mir zu viel mit einer Mischung aus Depression und Selbstmitleid, und ich fand keinen Bezug zu ihnen.

Abgeschlossen wird dieser Teil des Buches von einigen Tagebucheinträgen aus dem Jahre 1900. und hier erhält man ganz interessante Einblicke in Hesse’s Gefühls- und Gedankenwelten.
Auch seine Meinungen zu anderen Autoren sind teilweise von Interesse: “(...) es ist körperlich ungesund, solche Sachen zu lesen. Mit Tolstoi geht es mir genau wie mit Zola, mit Ibsen, mit Luther, mit Hebbel und zwanzig anderen Größen - sehe ich sie, so muss ich den Hut abnehmen, wohler aber ist mir, wenn ich sie nicht sehe.”

  1. Peter Camenzind
Sein erster Roman also: Peter Camenzind. Zum ersten mal also lese ich ihn, 23 Jahre nach meiner Begegnung mit Siddhartha. Fazit? Sehr anders. Der Camenzind scheint mir, spätere Werke Hesses kennend, wie ein recht unfertiger “Demian” oder halbgarer “Steppenwolf”. Ein Versuch. Ein Entwurf. Aber das wird der Geschichte natürlich nicht gerecht, die immerhin sein erster Roman war. Es zeigt sich also schon hier die Gangart und Richtung, in die Hesse’s spätere Werke gehen werden.
Peter Camenzind, Sohn eines Schweizer Bergtales, der außer Ziegen über die Almen zu treiben vor seinem Umzug in die große Stadt nicht viel von der Welt wusste, liest sich flüssig und angenehm, der Roman erweckt aber nicht dieselben großen Gefühle der späteren Werke, und er hinterlässt auch nur ein bedingtes Gefühl von Befriedigung am Ende der Geschichte - das Ende des Romans wirkt unfertig und nicht endgültig.

Der introvertierte Bauernsohn, der in Basel und Zürich Schwierigkeiten hat, Anschluss an die “besseren Kreise” zu finden, seine Gefühle in gesellschaftlich akzeptabler Weise zum Ausdruck zu bringen. Der viel und gerne trinkt und auch kräftig zulangen kann.

Was im Gedächtnis bleibt, sind Szenen der Zärtlichkeit wenn er sich um einen “Krüppel” kümmert und schließlich zu sich nach Hause aufnimmt oder seine Italienreisen, wo er sich auf einmal vom deutschsprachigen Kulturkreis verabschieden und das Leben so leben kann, wie sein innerstes Selbst es liebt.

Eine Schlüsselszene der Erkenntnis und inneren Entwicklung, die auch für Hermann Hesse und sein Werk wichtig und aussagekräftig war und ist, wird auch im Camenzind geschildert, namentlich die bewusste Wahl, dass es Hesse nicht um die Veränderung der Gesellschaft durch politische Bewegungen oder Meinungen geht. Es liegt ihm einzig an der Beeinflussung und Veränderung des Individuums.

“(...). Andere hielten es für erstrebenswert, den ewigen Weltfrieden herbeizuführen. Und wieder einer kämpfte für die darbenden unteren Stände, oder sammelte und redete dafür, dass Theater und Museen fürs Volk gebaut und geöffnet wurden. Und hier in Basel wurde der Alkohol bekämpft.
In all diesen Bestrebungen war Leben, Trieb und Bewegung; aber keine davon war mir wichtig und notwendig, und es hätte mich und mein Leben nicht berührt, wenn alle jene Ziele heute erreicht worden wären. Hoffnungslos sank ich in den Stuhl zurück, schob Bücher und Blätter von mir und sann, und sann. Dann hörte ich vor den Fenstern den Rhein ziehen und den Wind sausen und lauschte ergriffen auf diese Sprache einer großen, überall auf der Lauer liegenden Schwermut und Sehnsucht. Ich sah die blassen Nachtwolken in großen Stößen wie erschreckte Vögel durch den Himmel flattern, hörte den Rhein wandern und dachte an meiner Mutter Tod (...).”

Hermann Hesse hat dies später immer wieder gesagt: in seiner Jugend hätte er auch an Marx und Lenin gedacht und für eine kurze Zeit lang geglaubt, die großen gesellschaftlichen Gegenentwürfe hätten formende Kraft, um die Menschheit als Ganzes weiterzubringen. Aber Hesse war zu sensibel und zu intelligent, um auf die großen Ideologien hereinzufallen. Dass der Mensch, so wie er ist, so wie das Individuum ist, ganz unabhängig von der vorherrschenden Gesellschaftsordnung im Dunkeln sein und bleiben würde, sah er nur zu deutlich.

Deshalb zielt er auf das Kern des Individuums. Selbst sein Buch über den Buddhismus und die Erreichung des Nirvana ist letztlich ein sehr westliches, ein sehr modernes Buch: es ist die westlich-individualistische Antwort auf den Buddhismus.

Heute erscheint Hesse's Welt- und Menschenbild als Norm, aber damals, als der junge Schwabe sich in der Schweiz vor dem Irrsinn der Weltkriege und Rassenideologien verschanzte, war er seiner Zeit weit voraus. Ähnlich wie Nietzsche, wenn auch ganz anders, war auch Hesse seiner Zeit um mindestens 50 Jahre voraus. Manche seiner Werke wurden erst sehr viel später Teil der Populärkultur (wie der "Steppenwolf" ein Schlüsselroman der Hippie-Bewegung wurde).

Und erscheint heute vieles aus Hesse's Feder antiquiert und überholt, so kann man auch im Jahre 2015 immer noch persönlichen Gewinn aus einer ernsthaften Lektüre Hesse's ziehen.

16 Oktober 2015

Christoph Ransmayer: Der Fliegende Berg






2006 bekam ich als Abschiedsgeschenk von meinem studentischen Nebenjob bei “academic books” in Tübingen (mein Interesse an tibetischem Buddhismus und die Werbung für Ransmayrs neues Buch im Börsenblatt waren wohl ausschlaggebend gewesen), diesen Roman, welchen zu lesen ich leider nie die Zeit fand.

Erst viele Jahre später in Irland war es nun endlich so weit und aus einem inneren Impuls heraus las ich das Buch dann innerhalb einiger Tage durch.

Was ich amüsiert und überrascht feststellte: die Protagonisten des Romans sind Iren, und der österreichische Autor lebt zeitweise in Irland. Als ich das Buch bekam, war noch nicht abzusehen, dass es mich bald nach Irland verschlagen würde; und all die (fast 8) Jahre, in denen das Buch ungelesen in meinem Bücherregal hier in Dublin stand hatte ich keine Ahnung, dass es teilweise hier in Irland spielt - wenn auch nur in der Erinnerung des Hauptprotagonisten.

“Der fliegende Berg” ist ein Roman, der zunächst anmutet wie ein Gedicht-Epos, denn er ist im “Flattersatz” verfasst (der Autor nennt ihn, bezugnehmend auf den Titel seines Romans und zentralen tibetischen Berg seiner Geschichte auch “fliegender Satz”).

Einmal an die Versform gewöhnt, liest sich das Buch flüssig.

Ransmayr stellt eine Beziehung her zwischen Irland und Tibet, eine Verbindung, die zunächst komisch anmutet, aber bei näherer Betrachtung doch sinnvoll erscheint.
Irland, die unterdrückte Insel, welche teilweise noch von den Briten besetzte Insel, die zwar Berge hat, jedoch kaum nennenswerte Erhöhungen über Meeresspiegel.

Tibet, welches gar kein Land mehr ist (wie Irland einst kein eigenständiger Staat war), und dessen tiefste Punkte immer noch weit, weit über dem Meersspiegel liegen. Dessen Berge aber fossile Zeugen urzeitlicher Meeresgründe bergen.

Vom jetzigen Meer auf die höchsten Berge, die das einstige Meer waren. Von der jetzigen Freiheit auf die Unfreiheit, die einst aber frei waren.

Auch der zeitliche Verlauf der Geschichte ist “flatterhaft”. Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit vermischen sich in den Erinnerungen des sterbenden (gestorbenen?) Ich-Erzählers. Mal spielt die Handlung in seiner Kindheit an der irischen Südwestküste, mit Reminiszenzen an den Vater, der Aktivist der IRA war, und die Mutter, welche mit einem protestantischen Nordiren durchbrannte.

Dann mit der tibetischen Geliebten, welche auch Mutter ist und deren verstorbener Ehemann Opfer chinesischer, willkürlicher Gewalt wurde.

So gesehen ist Ransmayers Roman eine Parabel auf die Vermählung von Meer und Berg, von Freiheit und Gefangenschaft, von Leben und Tod, von Vergangenheit und Zukunft.

Im Zentrum, immer wieder, die ungleiche Beziehung zweier ungleicher Brüder. Der eine ein ehemaliger, erst zurück in Irland, dann mit dem älteren Bruder in Tibet gestrandeter Seefahrer, der klar Abhängig ist von der Entschlossenheit seines Bruders, bis hin zu dem Punkt, wo er die Träume und Pläne des Bruders übernimmt und das eigene Ich zurück stellt.

Liam, der ältere Bruder, dessen Name gebetsmühlenartig wiederholt wird im Verlauf der Geschichte. Der Draufgänger, der Unnachgiebige, der nicht versteht, was sein kleiner Bruder an der verwitweten Mutter Nyema vom Volk tibetischer Nomaden und Yak-Hüter findet, der schließlich in Konkurrenz tritt zu ihr und den Bruder vor die Wahl stellt - sie oder ich.

Und immer wieder das Motiv des mystischen fliegenden Berges, wo frei nach Nietzsche die “höchsten Höhen auf die tiefsten Tiefen” treffen werden (getroffen wurden?).

Alles in allem eine faszinierende Reise durch die Abgründe der menschlichen Seele, exemplarisch dargestellt an zwei irischen Brüdern, dem Kampf und Verlangen nach Unabhängigkeit und der Unmöglichkeit, diese sowohl in den Niederungen menschlicher Bestrebungen als auch auf den höchsten Gipfeln der Welt zu finden - denn wo auch immer man hingeht, man nimmt sich selbst, und damit seine Abhängigkeiten und Gefangenheit, mit sich.

Am Ende ist der Versuch der Freiheit zum Scheitern verurteilt, doch das Scheitern geschieht ohne Bitternis, und es ist das Akzeptieren des “So-Seins”, welches dann doch zur Freiheit in der Unfreiheit führt.

Wahrlich, ein tibetisch-irischer Roman.

10 Mai 2015

Joe Abercrombie: Königsschwur ("Half a King")



(Gelesen im englischen Original - keine Gewähr für Qualität der deutschen Übersetzung)

"A man who worships the One God cannot choose his own path: he is given it from on high. He cannot refuse requests, but must bow to commands. The One God makes a chain through the world, from the High King, through the little kings, to the rest of us, each link with its right place. All are made slaves."

Prolog: Wie ich zu Joe Abercrombie kam
Meine Liebesbeziehung mit Joe Abercrombie begann auf die denkbar pathetischste Art und Weise: ein Vulkan mit unaussprechlichem Namen auf der Feuer- und Eis-Insel Island hatte den gesamten Flugverkehr in Europa für Tage (es waren gefühlte Wochen) lahm gelegt.

Ich, lebend in Irland, war just zu diesem Zeitpunkt auf Heimatbesuch in Süddeutschland bei den Eltern und musste meinen Rückflug um eine ungewisse Zeit verschieben. Welch Drama, bedeutete dies doch etliche Tage bezahlten Zwangsurlaub, etliche geköpfte Flaschen Wein mit den Eltern und zur Feier des Tages auch den ein oder anderen Champagner.

Da es völlig unklar war, ab wann der Flugverkehr wieder starten würde, rückte eine mehrtägige Reise per Zug und Fähre in den Bereich des Möglichen.

Da mir der Lesestoff ausgegangen war, besuchte ich den Böblinger Fantasy-Shop, auch aus einem ganz anderen Grund: als alter Fantasy-Rollenspieler der ersten Stunde (schon Anfang der 80er-Jahre mit einer aus den USA importierten, frühen Version des Klassikers "D&D" vom Rollenspiel-Bug infiziert), stieg ich gegen Mitte der 80er auf den deutschen D&D-Klon "Das Schwarze Auge" um (noch in der ersten Auflage) und war seitdem treu und dem Pen&Paper-Rollenspiel verfallen.

Der sehr hilfreiche Angestellte (Besitzer?) des Fantasy Strongpoints Böblingen empfahl mit zwei Autoren, welche mir damals noch nichts sagten. Einen gewissen "George R.R. Martin", der angeblich mit einer Fantasy-Serie namens "Song of Ice & Fire" Furore gemacht hatte, und der wesentlich jüngere (und "Junge Wilde") Joe Abercrombie mit seiner "First Law" Trilogie. Beide Autoren hätten auf ihre Weise bewusst mit der klassischen Fantasy (v.a. der sogenannten "High Fantasy" à la Tolkien) gebrochen, sich aber auch geweigert, die Regeln einer "Low Fantasy" (man denke an "Conan") blind zu übernehmen.

Vielmehr könnte man ihre Bücher einer Art "Anti-Fantasy" zuordnen. Beide Autoren benutzen magische Kräfte eher in homöopathischen Dosen, fallen aber damit nicht unbedingt in die klassische Low-Fantasy Kategorie, obwohl brachiale Gewalt auch in den Werken beider Autoren eine Rolle spielt.

Aber weder das Fehlen von Magie noch die immer wieder zu Tage tretende Brutalität (und Sexualität) sind das definierende Moment in den Werken dieser Autoren. Vielmehr wird beim Lesen ihrer Bücher klar, dass ihre Werke ganz offensichtlich Probleme und Thematiken unserer aktuellen Welt und Gesellschaften in einen archaischen Kontext verlegt haben.

Mit seiner "The First Law"-Reihe legte Abercrombie den Grundstein einer Welt, die seinen Ruf in der Fantasy-Szene etablierte als einen Autor mit harten Büchern, voll von Charakteren, die zwischen dem klassischen "Gut-Böse"-Schema liegen und die vielen Grauzonen der Realität mit Leben und Charakter füllen. Gute Menschen, denen allzu unfair-böses geschieht, und die das Leben in der Folge hart und oft auch unbarmherzig macht. Feigen, oft räudigen Hunden, die sich auf verlogene Art in Machtpositionen bringen konnten. Nicht zuletzt dekonstruierte die "First Law"-Trilogie des Briten Abercrombie die "Herr der Ringe"-Trilogie seines Landsmanns Tolkien. "Herr der Ringe auf Crack" könnte man die Romane teilweise nennen. Man stelle sich einen "Herr der Ringe" vor, in dem sich Gandalf als intrigantes, Fäden spinnendes Arschloch entpuppt, der "eine Ring" Radioaktivität austrahlt und die Hobbits nach und nach an Strahlenkrankheit krepieren... Aragorn ein feiger, eitler, oft notgeiler Bock ist und die Elfen die Welt schon lange - wahrscheinlich wegen der Verlogenheit der Menschen - verlassen haben. Ein "Herr der Ringe", in dem der wahre Held Grima Schlangenzunge heisst und sich das absolut Böse nicht als lidloses, feuriges Auge, sondern als mächtiges Bankhaus entpuppt. Das ist Fantasy aus der Post-Lehman-Brother's Welt. Hart, oft unfair und ironischerweise nichts für Romantiker und Träumer.

Das Buch "Königsschwur" / "Half a King"
Wie ist nun Abercrombies neues Buch?
Zunächst einmal: artig und brav im Vergleich zur "Ab 18"-Fantasy seiner ersten Bücher. "Half a King" ist ganz klar für ein jüngeres Publikum geschrieben worden. Sexszenen gibt es nicht, und das Fluchen hält sich in jugendfreien Grenzen. Ich vermute einmal, die Zielgruppe ist in demselben Alter, in welchem ich damals die Jahresromane von Wolfgang Hohlbein (Märchenmond, Elfentanz, Drachenfeuer etc...) verschlungen hatte. Allerdings ist die "Jugend von heute" eine gänzlich andere Generation - mich hätte dieses Abercrombie-Buch damals dann doch etwas schockiert.

Prinz Yarvi ist der zweite Thronfolger im Königreich Gettland. Ein kriegerisches Volk, und sein doch sehr kriegerischer Vater hat - den Göttern sei es gedankt - noch den ersten Thronfolger, Yarvis älteren Bruder, parat. Denn Yarvi ist von Geburt an ein Krüppel - seine linke Hand ist nur ein Stumpf mit nur einem, nicht funktionalen Finger. Unfähig zu kämpfen und von eher schwacher Konstitution, ist Yarvi der Spott im Trainingshof und eine Schande für seine Familie. Wäre da nicht sein wacher Verstand und seine überdurchschnittliche Schläue - weshalb er sich für die Rolle des "Ministers" (Gesandten, Gelehrten, Priesters) eignet, und von Mutter Gundrig höchst persönlich für ein Leben im Amt ausgebildet wird - Verzicht auf den Thron und Adelstitel sind die Voraussetzung für eine Karriere, auf die sich der junge Prinz nicht nur vorbereitet, sondern regelrecht freut.
Zu Beginn des Romans, zur Endzeit seiner Vor-Ausbildung und kurz vor Abnahme der Minister-Prüfung am Hofe des Großkönigs passiert nun das Unglück: sowohl sein Vater als auch sein Bruder werden hinterrücks getötet, ganz offensichtlich von den Schergen und im Auftrag des Königs des verfeindeten Nachbarlandes, Vansterland.
Nun rückt Yarvi ins Zentrum der Macht, denn er ist nunmal der einzig übrige Erbe, und somit König der Gettländer.

Ein Netz von Intrigen, Gewalt und unerwarteten Ereignissen wird losgetreten, in dessen Verlauf sich Prinz Yarvi zunächst auf dem Thron von Gettland, dann aber in völlig anderen Umständen und Abenteuern beweisen muss - eine wahre Oddyssee durch die Welt der "Shattered Sea" beginnt, und als Leser ist man hier durchaus in derselben Lage wie Abercrombie-Fan George R.R. Martin: man kann das Buch bis zum Erreichen der letzten Seite einfach nicht mehr aus der Hand legen!

Das Buch mag sich an eine jüngere Zielgruppe wenden, und die Plot-Twists sind weniger kompliziert, als man es von Abercrombie gewohnt ist. Dennoch hat dies auch einige Vorteile - Abercrombie erzählt die Geschichte auf weniger Seiten, als er in seiner ersten Trilogie benötigt hatte. Ein gigantischer Vorteil ist, dass er hier die Kunst des "executive summary" gemeistert hat, denn weniger Seiten bedeutet hier mitnichten weniger Spass, sondern die Geschichte und ihre Spannungsbögen werden komprimiert. Waren seine frühen Romane noch Filterkaffee, bekommt man hier einen starken Espresso gereicht. Da Abercrombie sich trotzdem genug Zeit nimmt für Charakter- und Storyentwicklung, entwickelt die Geschichte also trotz der "nur" 373 Seiten einiges an Tiefgang. Es ist also ein sehr geschmackvoller Espresso, der einen lange anhaltenden, angenehmen Nachgeschmack hinterlässt.

Es eröffnet zugleich eine neue Fantasy-Reihe ("Shattered Sea Saga"), und man darf schon auf die nachfolgenden Bände gespannt sein.