13 Februar 2011

Joe Abercrombie: "Racheklingen" ("Best Served Cold")

Joe Abercrombie ist DER neue Stern am britischen Fantasy-Himmel. Nach seiner gefeierten “Klingen-Trilogie” bestehend aus den Büchern Kriegsklingen, Feuerklingen und Königsklingen (Originaltitel: “First Law Trilogy”: “The Blade Itself”, “Before They Are Hanged” und “Last Argument of Kings”) und dem auch in der Klingenwelt spielenden Roman “Racheklingen” (“Best Served Cold”) hat er nun die minutiöse Schilderung einer dreitägigen Schlacht, “Heldenklingen” (“The Heroes”) veröffentlicht.

Für seinen fünften und neuesten Roman wurde sogar ein Video-Trailer produziert, und Joe Abercrombie hat über einen Monat lang durch Buchhandlungen getourt, ein Twitter-Interview geführt und eine stetig wachsende Anhängerschaft auf Facebook gewonnen, mit denen er regelmässig kommuniziert.

Nachdem ich die Klingen-Trilogie regelrecht verschlungen hatte, war es natürlich nur eine Frage der Zeit bis ich mir den vierten Band, Racheklingen, auch besorgte. Begeistert von den deutschen Übersetzungen von Kirsten Borchardt habe ich auch diesen Band auf Deutsch gelesen.

Worum es geht:
“Racheklingen” ist keine Fortsetzung der Klingen-Trilogie, spielt aber in derselben Fantasy-Welt, wenn auch die Handlung dieses Bandes im Lande Styrien spielt, welches in der Klingen-Trilogie, die hauptsächlich in den Ländern der Union, ein bisschen im südlichen Ghurkisen-Land und natürlich auf dem nördlichen Kontinent der Nordländer spielte, nur am Rande erwähnt wurde.

Allerdings begegnen dem Leser hier einige Figuren aus der Trilogie wieder, diesmal spielen einige davon zentralere Rollen. Da ist zunächst der Nordländer Espe, der styrische Glücksritter und Söldner Nicomo Cosca, aber auch die Edle Carlot dan Eider, die ehemalige Foltermeisterin Schylo Vitari, der Bankier Mauthis und der Magier Yoru Sulfur.

Die Hauptprotagonistin jedoch ist Monzcarro Murcatto, oder kurz “Monza”. Anführerin des Söldnerheeres “1000 Klingen”, trägt sie so charmante Beinamen wie “Schlange Talins” oder “Schlächterin von Caprile”. Sie dient Herzog Orso von Talin, Schwiegervater des Hochkönigs der Union und Vater von zwei eher misratenen Söhnen. Bei Einsetzen der Handlung hat Monza bereits viele Schlachten für Herzog Orso gewonnen, fast ganz Styrien wurde besiegt und nach 19 blutigen Jahren steht Orso kurz davor, König Styriens zu werden und damit die sogenannten “Blutigen Jahre” zu beenden.

Doch Orso hat Angst: sein Großvater war Söldner gewesen, und er hatte gegen seinen Herrn usurpiert und den Thron von Talin bestiegen. Monza und ihr Bruder Benno sind beim Volk inzwischen beliebter als der hart regierende Orso - er wittert eine Verschwörung und wirft die nichtsahnenden Geschwister kurzerhand über das Geländer seiner Terrasse hinab in eine tiefe Schlucht. Benno ist tot, doch Monza überlebt schwer verletzt. Ein Knochensammler findet ihren zerschmetterten Körper und flickt diesen mehr schlecht als recht wieder zusammen. Verkrüppelt überlebt Monza das Komplott gegen sie. Und während alle Welt sie für tot hält, schwört sie bitterste Rache an den Mördern ihres Bruders. Sieben Männer waren zugegen gewesen, als ihr Bruder und sie “entsorgt” wurden. Und diese sieben müssen nun sterben.

Zunächst heuert Monza den Nordländer Espe an, der eigentlich nach Styrien kam, um ein besserer Mensch zu werden. Wer Abercrombie kennt kann sich denken, wohin solche Vorsätze führen werden. Es gesellen sich noch ein gewiefter Giftmischer und seine Gehilfin, ein ehemaliger Sträfling, der Söldner Cosca und die ehemalige Foltermeisterin Vitari zur Gruppe - alle gekauft, alle aus Goldgier.

Der weitere Verlauf des Romans scheint vorgezeichnet: einer nach dem Anderen werden die sieben Männer gejagt und getötet und am Ende wird Monza als einzige Überlebende des Schlamassels dastehen.
Natürlich kommt alles anders, denn dies ist nicht Tolkien, dies ist Abercrombie, der selbsterklärte Vertreter der Anti-Epischen Fantasy. Und zugegebenermassen ein Meister der unerwarteten Wendungen. Ohne zu viel zu verraten kann ich hier also nur schreiben: man lese und staune, es wird am Ende eh alles anders kommen als Anfangs gedacht. Oder?

Wie es ist
Nun, ich muß gestehen, ich habe “Racheklingen” mit wesentlich weniger Vergnügen gelesen als die “Klingen-Trilogie”. Und ich weiss noch nicht einmal wirklich warum, denn Abercrombie hat eigentlich alles richtig gemacht. Plotwendungen, Charaktere, denen das Leben ständig so übel mitspielt dass aus ihren guten Vorsätzen und weniger guten Entscheidungen schließlich ein mieses Schicksal wird. Harte Kampf- und noch härtere Sexszenen. Hier ist echte, rauhe, dreckige Erwachsenen-Fantasy mit einem guten Schuß ernüchterndem Nihilismus. Wenn Nietzsche Fantasy schreiben würde, dann sähe das Ergebnis sicherlich so ähnlich aus.

Vielleicht muss ich andersrum anfangen: was hat die Klingen-Trilogie, was “Racheklingen” nicht hat? Zunächst einmal war sie für mich ein Novum. Bislang war ich “klassische” Fantasy gewohnt, also Tolkien, Hohlbein und den ganzen Krams. Träumen von Magie, Elfen, Feen, all die unreifen Fantasy-Träume meiner Kindheit und Jugend. Abercrombie traf mich zunächst wie ein Hammer mitten ins Gesicht: hier war Fantasy, in der dieselbe desillussionierte, enttäuschte, nihilistische Stimmung und Denkweise aus jeder Seite triefte, die inzwischen mein Leben tagtäglich bestimmt. Es gibt in meinem Leben keine Träume mehr, die über materielle Wunscherfüllung hinausgehen. Spirituelle, idealistische Erwartungen habe ich nicht mehr. Nichts was nicht über ein teures Auto oder Sex, einen guten Wein oder ein leckeres Essen hinausgeht. Auch von den Mitmenschen erwarte ich nicht mehr viel, und wenn, dann nur das Schlimmste. Genau diese Stimmung ist in Abercrombies Welt vorherrschend, und beim ersten Mal hat er bei mir damit voll ins Schwarze getroffen.

Bei “Racheklingen” war der Effekt des Neuen aber bereits dahin, ich habe nichts vorgefunden, was ich nicht eh schon erwartet hätte. Klar, die Kämpfe, das Fluchen und auch die harten Sex-Szenen sind hier noch krasser und deutlicher geschildert als in der Trilogie.
Die Trilogie hatte jedoch noch einige literarische Kniffe und Finessen, welche ich bei “Racheklingen” vermisse. Zunächst gab es dort den Magier Bayaz, der zu Beginn der Trilogie wie ein klassischer Fantasy-Magier rüberkam. OK, die Magie weicht aus der Welt, und die Klingen-Welt entpuppt sich als eine klassische “Low-Fantasy” - Welt à la “Conan”. Dennoch hatte Bayaz anfangs noch etwas Gandalf-artiges, dass dann Kapitel für Kapitel dekonstruiert wurde, was teilweise köstlich war.
Auch die “Queste” in der Mitte der Trilogie, wo eine Gruppe Helden auf der Suche nach einem mächtigen Objekt bis ans Ende der Welt und über die Grenzen der Belastbarkeit hinausgeht (um dann mit leeren Händen und absolut enttäuscht und desillusioniert zurückzukehren, eine prächtige Demontage des “Herrn der Ringe” und aller Klone!), war ein Element, dass clever und spannend eingebaut worden war.

“Racheklingen” hat nichts davon. Es gibt Magie nicht einmal ansatzweise, an einer Stelle sieht Monza einen Regenbogen und erinnert sich daran wie ihr Vater ihr als Kind erzählt hatte, am Ende eines Regenbogens sei das Elfenland. “Elfenscheiße vielleicht” ist ihr gedanklicher Kommentar um uns zu zeigen, wie gänzlich entzaubert diese Welt schon ist.

Für wen ist also “Racheklingen” gut? Für Abercrombie-Fans, auf jeden Fall. Für Freunde von Fantasy der harten Gangart. Für Leute, die noch nie Fantasy dieser Art gelesen haben und sich mal so richtig schön schocken lassen wollen. “Racheklingen” spielt in einer schmutzigen, hoffnungslosen, verkommenen Mantel- und Degen-Welt, ist bevölkert von selbstsüchtigen Ärschen und desillusionierten Säufern.

Und für wen ist “Racheklingen” nichts? Für Leute, die sich ihre schöne, “heile Welt”-Fantasy nicht zerstören lassen wollen. Und für Leute die eine Fortsetzung der “Klingen-Trilogie” erwarten.

16 Januar 2011

Dietrich Schwanitz: “Bildung - Alles, was man wissen muß”




Dietrich Schwanitz: “Bildung - Alles, was man wissen muß”

Einleitend
Allein das Wort “Bildung” ist ein unglaublich deutscher Begriff, der so sehr nach dem 1000jährigen Staub unter den Talaren müffelt, dass ich lange Zeit einen großen Bogen um dieses Buch gemacht habe. Alleine der Klang evoziert Bilder (!) von Bildungsbürgern, ja Bildungsfaschisten, nach elitären Kreisen, in denen über das Schicksal des armen Brahms gefachsimpelt wird, der so sehr nach Beethoven klingt dass auch ihm selbst bewusst war, in wessen Schatten er stand, oder über Streitgespräche zwischen Strukturalisten und Dekonstruktivisten.

“Bildung”, das war und ist schließlich und endlich ein Begriff, bei dem sich mir ein geifernder Marcel Reich-Ranicki, die Literatur-Kanon-Keule schwingend vor das geistige Auge schiebt und ich mir denke: ihr versnobten Links- und Rechtsfaschisten, ich bin stolz darauf, dass ich mit Wolfgang Hohlbein, J.R.R. Tolkien und Douglas Adams aufwuchs und mich nicht durch den humanistischen Bildungsbürgertums-Katalog lesen musste, damit mein direktes Umfeld mich als Mensch (und nicht als Neandertaler) akzeptierte.

Als das Buch dann zum Bestseller wurde, führte in den Buchhandlungen kein Weg mehr daran vorbei (ich ignorierte es dennoch weiterhin standhaft), auch Empfehlungen von Freunden, es sei eigentlich gar nicht schlecht, schlug ich in den Wind. Ich erinnere mich an ein Radio-Interview mit Dietrich Schwanitz im SWR Rundfunk (“Leute” hieß die Sendung glaub ich), in deren Verlauf der Autor sich darüber beklagte, wie ungebildet inzwischen weite Teile der jugendlichen Bevölkerung seien; dass er junge Menschen kennen gelernt habe, welche sich beim Auswärtigen Amt bewerben wollten, aber noch nicht einmal wüssten, dass man sich in zivilisierten Kreisen vor einem Schluck Wein jedes Mal den Mund mit der Serviette sauber zu wischen habe, damit man keine Spuren am Weinglas hinterlässt.

Diese Fetzen des Radiointerviews genügten, damit ich beim Klang des Namens “Schwanitz” endgültig das Bild eines hoffnungslos Ewiggestrigen, eines Vertreters der - Gott sei Dank! - zum Untergang verdammten Spezies der Spießer im Kopf hatte.

Eigentlich wäre die Sache damit für mich erledigt gewesen. Eigentlich. Aber dann habe ich im Rahmen meiner Magisterarbeit beim Verfassen des Kapitels über die Informationsgesellschaft einen Artikel über den britischen Wissenschaftler und Literaten C.P. Snow und seine These von den “Zwei Kulturen” gelesen. Und im weiteren Verlauf fiel mir das Buch “Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte” von Ernst Peter Fischer in die Hände, welches ich eben erst hier rezensiert habe.

In jener Rezension habe ich Schwanitz und sein Buch (das ich bis dato nur oberflächlich angelesen und durchgeblättert hatte) sehr kritisch angegangen, bin also voll auf Fischers Argumentation und Vorwürfe (Schwanitz lässt die Naturwissenschaften aussen vor und behauptet, Kenntnisse in diesem Bereich seien zwar nicht negativ, “zur Bildung aber gehören Sie nicht”) eingegangen.

Nach Veröffentlichung der Rezension packte mich das schlechte Gewissen. Urteilen ist eine Sache, aber über etwas und jemanden zu urteilen, ohne mich ernsthaft mit ihm und seinen Gedanken auseinandergesetzt zu haben eine ganz andere. Also habe ich mir sein Buch bestellt, konzentriert und aufmerksam durchgearbeitet - und schulde dem Autor nun nicht nur eine Entschuldigung, sondern möchte anhand einer ehrlichen aber hoffentlich auch kritischen Besprechung versuchen, hier einiges wieder zurecht zu rücken.

Inhalt
Eigentlich sagt das Zitat aus der ZEIT, welches sich auf dem Buchumschlag befindet, schon alles aus:


“Die gesamte europäische Kultur in einem einzigen dicken Band: eine Frechheit, ein Vergnügen und eine längst fällige Provokation”

Und provoziert hat Schwanitz mit seinem Buch, und vor allem mit dessen ungebrochenem Erfolg. Doch was steckt jetzt dahinter, bzw. zwischen den Buchdeckeln?

Zunächst einmal eine Abrechnung (nicht anders verstehe ich das “Vorwort”) mit der deutschen Gesellschaft, vor allem aber den Bildungseinrichtungen Schule und Universität sowie der “Bildungspolitik” der letzten Jahrzehnte. Schwanitz outet sich hier als ein Verfechter des Bildungskanons, genauer gesagt eines “klassischen” oder “humanistischen” Bildungsideals (obwohl er dieses Wort selbst nicht in den Mund nimmt). Er stellt das, was die ‘68er-Generation bekämpfte und schließlich besiegte (aus Schwanitz’ Sicht wohl eher: “ermordete”), nicht als “humanistisches” Bildungsgut dar, sondern als wichtigsten Bildungsschatz der Deutschen, welchen diese wenn nicht komplett verloren, so doch an einen schwer zugänglichen Ort hin verlegt haben. Bereits im Vorwort grenzt sich Schwanitz also deutlich von linken, oder gar kommunistischen (Frankfurter Schule!) Intellektuellen ab. Übrigens ist das Bild, welches ich mir beim Lesen des Buches vom Autor machen konnte nicht ganz so einfach. Zwar würde ich ihn eher als konservativen FAZ-Leser klassifizieren. Jedoch dürfte er kein blinder “CDU-Fahnenträger” sein. An Unterschriftenaktionen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft hätte sich ein Schwanitz sicherlich nie beteiligt, das plump-bürgerliche Lager, welches den Großteil der CDU-Wählerschaft ausmacht ist ihm also sicherlich genauso fern wie die ideologisch der Realität entrückten und fanatischen Höhen der typischen, sogenannten “Linken”.

Doch zurück zum Buch. Nach einer harschen, aber in weiten Teilen realistischen Bestandsaufnahme des Zustands des deutschen Bildungswesens stellt er dem geneigten Leser sein Gegen- bzw. Heilmittel vor: Bildung. Und ja, die Kenntnis von Jahreszahlen und Klassikern ist hier zentraler Kern seines Anliegens. Das “sture Auswendiglernen” von Jahreszahlen und geschichtlichen Ereignissen ist ja seit den ‘68ern “mega-out”. Schwanitz sieht hier aber fast schon den Untergang des Abendlandes gekommen. Das Grundübel sieht Schwanitz dann eben auch in der intelektuellen Starre, in welche Deutschland nach dem 2. Weltkrieg verfallen ist. Und die ‘68er meinten es zwar gut, ‘gut gemeint’ ist dann aber leider allzuoft das Gegenteil von ‘gut’. Schwanitz Hauptklage ist also auch und vor allem, dass den Deutschen ihre Erzählung (=Geschichte) abhanden gekommen ist. Die Katastrophe der Nazi-Zeit schiebe sich wie ein beinahe undurchdringlicher Schleier vor den Rückblick auf die eigene Geschichte. Eine objektive, in den größeren Rahmen der europäischen Geschichte eingebettete Beurteilung der eigenen Geschichte (und damit auch: der eigenen Herkunft, Besonderheiten, Kultur) wird hier also verhindert. Doch lassen wir Schwanitz kurz selbst zu Wort kommen:


“Dabei muß man den Schwachsinn vergessen, mit dem die Bildungsreformer die chronologische Ordnung als Leitfaden des Geschichtsunterrichts zerschnitten und durch solche Trümmer wie Unterrichtseinheiten über “die mittelalterliche Burg” oder “den Reisanbau in Vietnam” ersetzt haben. Indem man gegen die Paukerei von Jahreszahlen polemisierte, gab man zu erkennen, daß man den Verstand verloren hatte: Jahreszahlen sind nicht einfach Zahlen, sondern Vergleichspunkte für weit Auseinanderliegendes, Markierungen für die Gliederung von Abschnitten, Bojen auf der See der Ereignisse, erleuchtete Straßenschilder in der Nacht, die den Weg der Geschichte erst ordnen. Wer gegen die Chronologie polemisiert, ist so meschugge wie jemand, der die Abschaffung der Bretter aus den Bücherborden zu seiner Lebensaufgabe macht. Aber genau das hatten die Bildungsreformer getan. Auf diese Weise ist den Schülern und Studenten der Sinn für Geschichte als Abfolge der Epochen weitgehend verlorengegangen. Das Gefühl für die “Zeitgestalt” der Geschichte haben sie nie erworben.
Eigene Datenerhebungen unter Anfängern des Anglistikstudiums über zehn Jahre hinweg ergaben, daß nur sechs von 100 Befragten die Frage beantworten konnten, wer Oliver Cromwell war und wann er gelebt hatte. Und die Lebensdaten Shakespeares wurden gerecht auf alle Epochen zwischen dem 12. und 19. Jahrhundert verteilt.
In dieser Amputation des historischen Sinns unterscheiden wir uns von unseren westlichen Nachbarn. Deshalb haben wir die europäische Geschichte in diesem Handbuch so gestaltet, daß der Zusammenhang sichtbar bleibt und ein Überblick erleichtert wird.”

Neben Geschichtskenntnissen will Schwanitz aber noch mehr vermitteln. Ist die Geschichte die Mutter aller Wissenschaft und Kultur, so sind ihre erstgeborenen Kinder die Literatur, die Musik und die Künste. Auch auf diese geht Schwanitz in einzelnen Kapiteln ein, und er verfährt hier - sehr “altmodisch” - strikt historisch, was aber den Vorteil hat, dass man nach dem Lesen des Buches mehrmals durch die Geschichte Europas geführt wurde, einmal rein historisch, dann literarisch, und schließlich musisch und musikalisch. Alles zusammen ergibt dann einen Gesamtüberblick über die wichtigsten Ereignisse und Kulturgüter.

Hier liegt allerdings auch das Problem des Buches: so hehr das Anliegen Schwanitz’ auch sein mag, gerade beim Literaturkanon fand ich ihn dann doch zu konservativ. Zwar erspart er seinen Lesern (im Gegensatz zum geifernden “Literaturpapst” Ranicki) den unsäglichen Stefan George, jedoch dreht sich dann doch die gesamte deutsche Literatur um Schiller und vor allem Goethe. Größen wie Herder oder Wieland werden nur gestreift, Dichter wie Heine oder Literaten wie Hesse sind es nicht einmal wert, auch nur bei Namen genannt zu werden (Nietzsche wiederum schon). Die Auswahl seines Kanons ist also nicht nur subjektiv (welcher Kanon ist das nicht?), sondern zeigt auch sehr deutlich “wes Geistes Kind” Schwanitz ist.

Das Problem hierbei stellt sich aus meiner Sicht vor allem deshalb dar, weil Schwanitz das Buch ja anscheinend für den durchschnittlichen “deutschen Michel”, vor allem eben auch für all die ungebildeten Klötze (BWLer, Maschinenbauer und Friseusen) geschrieben hat, die sich zwar prächtig bei Bier und Wurst beim Fußball amüsieren können, im Grunde aber nur halbzivilisierte Affen sind.

Ich persönlich widerspreche Schwanitz da nicht einmal, schreibe ich aber einen Literaturkanon “fürs Volk”, dann sollte dieser doch noch etwas ausführlicher ausfallen. Zumindst in seine “Liste zum Weiterlesen” hätte er noch einige Schriftsteller und Dichter mehr mit aufnehmen sollen.

Gliederung
Nach einem Gewaltmarsch durch die europäische Geschichte von den Griechen bis ins 20. Jahrhundert (265 Seiten) wird der Leser durch die europäische Literatur geführt (90 Seiten). Es folgt eine Darstellung der “Geschichte der Kunst” (33 Seiten) und der “Geschichte der Musik” (28 Seiten). Auf den nachfolgenden 66 Seiten lernt man die Grundzüge der Philosophien, Ideologien und Theorien kennen, um sich dann 16 Seiten lang mit der Geschlechterdebatte auseinanderzusetzen. Dies schließt den ersten Teil des Buches - “Wissen” - ab.

Der zweite Teil - “Können” - wird allen Ernstes von einem Kapitel mit dem Titel “Einleitung über die Regeln, nach denen man unter Gebildeten kommuniziert; ein Kapitel das man auf keinen Fall überspringen sollte.” eingeleitet. Hier lernt man also, wie die richtigen Menschen Gebildeten miteinander kommunizieren und wie man sich in solch elitärem Kreise als Neandertaler, Fußballprolet oder “Bildungsaufsteiger” outet... nunja.

Das Kapitel enthält jedoch auch Passagen, die Spass machen und die ich so unterschreiben würde. So ist sich Schwanitz im Klaren darüber, dass TV, Internet und Co. inzwischen die Lektüre abgelöst haben und wohl auch in Zukunft “Kids” in der Regel zunächst Fernsehen werden, bevor sie mit der Welt der Bücher in Kontakt kommen. Und hier trifft er mit seinem Bedauern bei mir genau ins Schwarze. Ich selbst denke auch, dass dies ein unglaublicher Verlust ist, nicht nur für die Gesellschaft, sondern vor allem für die betroffenen Menschen. Klar, wer nicht weiß, was ihm entgeht, ist diesbezüglich gleichgültig. Aber lassen wir Schwanitz hier wieder zu Wort kommen:


“Literaturlektüre kann man nicht verordnen. Man muß freiwillig lesen. Darin ist Literatur wie die Liebe. Sie muß zum Lesen verführen. Lesen, weil man muß, heißt, die Liebe zur ehelichen Pflicht zu machen. (...) Man muß sich ja nicht andauernd verlieben, aber wenn man es nicht wenigstens einmal tut, wirft das ein düsteres Licht auf die seelische Verfassung. Entsprechend muß man nicht jeden großen Roman lesen, aber wer gar keinen liest, ist doch eine Art Neandertaler.”

Nach einem Ausflug in “Das Haus der Sprache”, in welchem man grundsätzliches zu Fremdwörtern, Grammatik und Kommunikation erfährt, geht es weiter mit der “Welt des Buches und der Schrift”. Für jeden, dem Bücher und Bibliotheken nicht gänzlich fremd sind, ist dieses Kapitel wohl eher ein Ausflug ins Land des Schmunzelns. Und dann kommt ein erschreckender Gedanke: es dürfte in Deutschland eine ganze Menge Menschen geben, denen dieses Kapitel neue Informationen liefern würde. Man will diesen Gedanken gar nicht zu Ende denken...

Das mithin amüsanteste Kapitel des Buches (“Länderkunde für die Frau und den Mann von Welt”) erklärt dem deutschen Durchschnittsmichel, wie Onkel Dietrich die Amis, die Briten, Franzosen, Spanier, Italiener, Österreicher, Schweizer und Holländer sieht, und natürlich welche Fehler man im Umgang mit ihnen lieber vermeiden sollte. Teilweise platt und voller Clichés (Stichwort: Machismo), teilweise dann doch (leider) allzuoft zutreffend (Stichwort: Zerknirschungsorgien).

Nach einem Kapitel über Intelligenz, Begabung und Kreativität folgt noch ein äußerst lustiger Teil: “Was man nicht wissen sollte”. Sprich: mit welcher Art von Wissen oute ich mich als Underdog, als Spross des “Prekariats”? Natürlich, enzyklopädisches Wissen aus der Welt des Sports (lies: Fussballs) gehört ebenso dazu wie Königshäuser-Klatsch oder eine allzu intime Kenntnis des Privatsender-Nachmittagsprogramms.

Ein Exkurs über “Das reflexive Wissen” bildet den Schluss des Buches, es folgen noch Zeittafeln, eine Liste von “Büchern, die die Welt veränderten” sowie 50 “Büchern zum Weiterlesen”, um in den behandelten Gebieten weiterzukommen.

Fazit
Schwanitz Buch ist nicht umsonst Gegenstand zahlreicher Kritiken und Verrisse geworden. Es ist ein zutiefst subjektiv geschriebenes Lehrbuch, und der “erhobene Zeigefinger” des Pädagogen (fast hätte ich gesagt: Volkserziehers) ist auf jeder Seite spürbar.

Trotzdem macht es großen Spass, das Buch zu lesen, und auch wenn man gegen Schwanitz’ Attitüde ist - man kann sich nicht dagegen wehren, eine Menge zu lernen. Ist das Buch “gefährlich”? Vielleicht - vor allem wenn sich Massen von “Ungebildeten” nach dem Band ausrichten und alle Aussagen ungeprüft übernehmen.

Aber lieber habe ich eine Horde blinder Goethe-Verehrer vor mir, als einen Mob, dessen Horizont über “Big Brother”, “Maybrit Illner” und die Fussball-Bundesliga nicht hinaus geht.

Am meisten profitiert vom Buch, wer eben nicht bei “null” anfängt, wer Goethe und seine Verehrer in kritischem Gegenlicht zu sehen versteht und sich einiger Dichter und Denker bewusst ist, die Schwanitz einfach ignoriert.

Ach ja, und wer Ernst Peter Fischers Buch “Die andere Bildung” auch liest.

Abschließen möchte ich diesen Versuch einer Besprechung mit einem Schwanitz-Zitat:


“Von Gott hat der Künstler [den Akt der Kreation] geerbt. Wie Gott eine Welt schafft, schafft der Künstler seine Welt. Beide sind Väter und Autoren ihrer Schöpfung. Wer sich aber selbst erschafft, ist gebildet.”