16 Oktober 2015

Christoph Ransmayer: Der Fliegende Berg






2006 bekam ich als Abschiedsgeschenk von meinem studentischen Nebenjob bei “academic books” in Tübingen (mein Interesse an tibetischem Buddhismus und die Werbung für Ransmayrs neues Buch im Börsenblatt waren wohl ausschlaggebend gewesen), diesen Roman, welchen zu lesen ich leider nie die Zeit fand.

Erst viele Jahre später in Irland war es nun endlich so weit und aus einem inneren Impuls heraus las ich das Buch dann innerhalb einiger Tage durch.

Was ich amüsiert und überrascht feststellte: die Protagonisten des Romans sind Iren, und der österreichische Autor lebt zeitweise in Irland. Als ich das Buch bekam, war noch nicht abzusehen, dass es mich bald nach Irland verschlagen würde; und all die (fast 8) Jahre, in denen das Buch ungelesen in meinem Bücherregal hier in Dublin stand hatte ich keine Ahnung, dass es teilweise hier in Irland spielt - wenn auch nur in der Erinnerung des Hauptprotagonisten.

“Der fliegende Berg” ist ein Roman, der zunächst anmutet wie ein Gedicht-Epos, denn er ist im “Flattersatz” verfasst (der Autor nennt ihn, bezugnehmend auf den Titel seines Romans und zentralen tibetischen Berg seiner Geschichte auch “fliegender Satz”).

Einmal an die Versform gewöhnt, liest sich das Buch flüssig.

Ransmayr stellt eine Beziehung her zwischen Irland und Tibet, eine Verbindung, die zunächst komisch anmutet, aber bei näherer Betrachtung doch sinnvoll erscheint.
Irland, die unterdrückte Insel, welche teilweise noch von den Briten besetzte Insel, die zwar Berge hat, jedoch kaum nennenswerte Erhöhungen über Meeresspiegel.

Tibet, welches gar kein Land mehr ist (wie Irland einst kein eigenständiger Staat war), und dessen tiefste Punkte immer noch weit, weit über dem Meersspiegel liegen. Dessen Berge aber fossile Zeugen urzeitlicher Meeresgründe bergen.

Vom jetzigen Meer auf die höchsten Berge, die das einstige Meer waren. Von der jetzigen Freiheit auf die Unfreiheit, die einst aber frei waren.

Auch der zeitliche Verlauf der Geschichte ist “flatterhaft”. Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit vermischen sich in den Erinnerungen des sterbenden (gestorbenen?) Ich-Erzählers. Mal spielt die Handlung in seiner Kindheit an der irischen Südwestküste, mit Reminiszenzen an den Vater, der Aktivist der IRA war, und die Mutter, welche mit einem protestantischen Nordiren durchbrannte.

Dann mit der tibetischen Geliebten, welche auch Mutter ist und deren verstorbener Ehemann Opfer chinesischer, willkürlicher Gewalt wurde.

So gesehen ist Ransmayers Roman eine Parabel auf die Vermählung von Meer und Berg, von Freiheit und Gefangenschaft, von Leben und Tod, von Vergangenheit und Zukunft.

Im Zentrum, immer wieder, die ungleiche Beziehung zweier ungleicher Brüder. Der eine ein ehemaliger, erst zurück in Irland, dann mit dem älteren Bruder in Tibet gestrandeter Seefahrer, der klar Abhängig ist von der Entschlossenheit seines Bruders, bis hin zu dem Punkt, wo er die Träume und Pläne des Bruders übernimmt und das eigene Ich zurück stellt.

Liam, der ältere Bruder, dessen Name gebetsmühlenartig wiederholt wird im Verlauf der Geschichte. Der Draufgänger, der Unnachgiebige, der nicht versteht, was sein kleiner Bruder an der verwitweten Mutter Nyema vom Volk tibetischer Nomaden und Yak-Hüter findet, der schließlich in Konkurrenz tritt zu ihr und den Bruder vor die Wahl stellt - sie oder ich.

Und immer wieder das Motiv des mystischen fliegenden Berges, wo frei nach Nietzsche die “höchsten Höhen auf die tiefsten Tiefen” treffen werden (getroffen wurden?).

Alles in allem eine faszinierende Reise durch die Abgründe der menschlichen Seele, exemplarisch dargestellt an zwei irischen Brüdern, dem Kampf und Verlangen nach Unabhängigkeit und der Unmöglichkeit, diese sowohl in den Niederungen menschlicher Bestrebungen als auch auf den höchsten Gipfeln der Welt zu finden - denn wo auch immer man hingeht, man nimmt sich selbst, und damit seine Abhängigkeiten und Gefangenheit, mit sich.

Am Ende ist der Versuch der Freiheit zum Scheitern verurteilt, doch das Scheitern geschieht ohne Bitternis, und es ist das Akzeptieren des “So-Seins”, welches dann doch zur Freiheit in der Unfreiheit führt.

Wahrlich, ein tibetisch-irischer Roman.

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